Ukrainische Partisanen Vom Leben und Sterben in den besetzten Gebieten

Philipp Dahm

16.7.2022

In den besetzten Gebieten formiert sich der Widerstand. Mit roher Gewalt oder psychologischen Plakaten machen Ukrainer den russischen Besatzern das Leben schwer. Kiew hat sogar ein Handbuch für Partisanen publiziert.

P. Dahm

16.7.2022

Es ist der erste grössere Guerilla-Anschlag: Ende Mai werden drei Personen bei der Explosion einer Autobombe im besetzten Melitopol verletzt. Am 7. Juni geht in Cherson eine Bombe in einem Café hoch, das vermehrt von Russen besucht worden ist. Und dann sind da noch die vielen Attentate auf jene, die mit den Besatzern kollaborieren.

Am 22. Mai wird Andrij Schewtschik bei einem Sprengstoffanschlag schwer verletzt. Er ist der Statthalter von Enerhodar im Oblast Saporischschja, wo das grösste Kernkraftwerk Europas steht. Am 22. Juni überlebt Olexij Kowaljow die Explosion einer Autobombe in Cherson. Dem 33-jährigen ukrainischen Politiker wird von der eigenen Seite vorgeworfen, mit dem Kreml zu kooperieren.

Zwei Tage später hat Dmytro Savluchenko, ein Mitarbeiter der russischen Besatzungsverwaltung, weniger Glück, als sein Auto in die Luft geht. Zuletzt hat es am 7. Juli den Ukrainer Serhii Tomko getroffen, der von den Russen als Polizeichef von Nowa Kachowka eingesetzt worden und in seinem Auto erschossen worden ist.

Wladimir Putin hat ein Problem: Seine Armee hat über 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets erobert, kann sich aber auf ihren militärischen Erfolgen nicht ausruhen, weil sich die Bewohner*innen wehren. Der Widerstand hat viele Gesichter: Mal ist er blutig, mal wirkt er psychologisch – etwa mit Plakaten (siehe obige Bildergalerie). «Sie sind überall», sagt eine 18-Jährige aus Cherson dem «Telegraph». «Das gibt uns Hoffnung.»

Wie sich das Leben in den besetzten Gebieten verändert

Offener Protest ist in den besetzten Gebieten seltener geworden, denn Russland verliert keine Zeit, wenn es ein Gebiet eingenommen hat. Das Leben der Bevölkerung wird auf den Kopf gestellt: Wer im Donbass auf dem Land lebt, braucht eine Genehmigung, um sich aus der Siedlung hinausbewegen zu können. Nur wer sich einen neuen Pass ausstellen lässt, kann sich frei bewegen.

Ein Al-Jazeera-Bericht mit Bildern aus dem besetzten Cherson vom 29. Juni.

Dasselbe gilt für jene, die staatliche Leistungen in Anspruch nehmen wollen. Das Problem: Männer der selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk im wehrfähigen Alter werden umgehend eingezogen, wenn sie ihren Ausweis tauschen. Die Folge: Im Donbass sehe man in den Städten «vor allem Frauen». Wer kann, bezahlt 1500 Dollar, um sich auf die ukrainische Seite der Front schmuggeln zu lassen.

Wer bleibt, hat Sorgen. Der Rubel ist den besetzten Gebieten neues Zahlungsmittel, der Handy-Provider ist jetzt russisch. Die Versorgung mit Wasser, Energie und Nahrungsmitteln und der Zugang zum Internet oder dem Geldautomaten ist weitgehend gestört. Lehrpersonal muss Schulungen in Russland absolvieren, um nach September weiterarbeiten zu dürfen.

«Entführungen passieren sehr häufig»

Wer unter Verdacht gerät, im Widerstand zu sein, hat nichts zu lachen. Ein Anonymus berichtet dem «Telegraph», er sei im Zusammenhang mit einem Anschlag verhaftet, geschlagen und drei Tage eingesperrt worden, bevor er nach Aufzeichnung eines Propaganda-Videos wieder freikam.

Zivilisten stehen am 27. Mai in Mariupol für Wasser an.
Zivilisten stehen am 27. Mai in Mariupol für Wasser an.
AP

«Entführungen passieren sehr häufig», sagt seine Nachbarin. «Sie entführen Leute, die Demonstrationen besuchen, Freiwillige oder Kämpfer.» Verdächtige werden demnach lokal in Keller gesperrt und misshandelt oder auf die Krim in spezielle Gefängnisse gebracht.

Mit denjenigen, die überführt werden, wird angeblich kurzer Prozess gemacht. Partisanen-Anführer Volodymyr Zhemchugov berichtet in einem Interview von einer Partisanen-Familie von Roma aus dem Dorf Vasylkivtsi im Oblast Saporischschja. «Sie hatten Waffen und griffen im Februar/März Russen an, erschossen sie, jagten Lastwagen in die Luft.» Weil sie aber offene Telefonverbindungen genutzt haben, seien sie geschnappt und getötet worden.

Das Handbuch für Partisanen

Laut Zhemchugov seien allein im Oblast Cherson mindestens 250 Menschen verhaftet oder entführt worden, weil sie angeblich mit den Partisanen zusammenarbeiten. Dabei können schon kleine Handlungen wie das Anbringen von gelben Bändern an Strassenlaternen grossen Ärger bereiten.

Um die Bevölkerung dabei zu unterstützen, sich den Besatzern zu widersetzen, hat Kiew schon im März eine entsprechende Website aufgesetzt, die von den Special Operations Forces der Streitkräfte gepflegt wird. Dort gibt es auch ein zehn Seiten starkes Handbuch mit dem Titel «Ziviler Widerstand in den besetzten Gebieten».

Auszug aus dem ukrainischen Partisanen-Handbuch.
Auszug aus dem ukrainischen Partisanen-Handbuch.

Die Massnahmen, die darin vorgeschlagen werden, betreffen ganz unterschiedliche Personengruppen. So sollen Priester bei der Post anheuern, um mit Gemeindemitgliedern in Kontakt zu bleiben. Ärzte sollen möglichst viele Medikamente verschreiben, um die Arznei-Vorräte des Widerstands aufzustocken. Und Beamte sollen besterdings immer wieder Befehle «missverstehen» und «endlos Fragen stellen».

Die Todesliste des Widerstands

Zivilsten können für Chaos sorgen, indem sie regelmässig Feueralarm auslösen, öffentliche Toiletten verstopfen oder Glühbirnen herausdrehen. Handfester sind Tipps, wie man Elektronik, Maschinen oder Fliessbänder sabotiert. «Der ukrainische Guerillakrieg gegen Russland ist jetzt voll in Fahrt», titelt dann auch das Militär-Magazin «19FortyFive».

Spielen die Partisanen militärisch eine Rolle? Nein – und ja. Ihre Einzelaktionen werden die Russen nicht zum Aufgeben bewegen, doch dafür bindet die Aussicht, jederzeit überfallen werden zu können, Kräfte. Einerseits mit Blick auf Truppen, die für die Wahrung der internen Sicherheit abgestellt werden müssen, und andererseits kosten ihre Anschläge jede Menge Nerven der russischen Soldaten.

Die Partisanen schrecken ausserdem potenzielle Kollaborateure ab – etwa wenn es um die Durchführung von Unabhängigkeitsreferenden geht. «Wir werden Gebäude blockieren, wir werden in den Strassen kämpfen», kündigt ein ukrainischer Kämpfer in Cherson an, wo eine solche Abstimmung geplant ist. «Jeder, der damit in Zusammenhang steht, steht auf unserer Todesliste.»