Kampf um Lützerath Darum schützen Tausende Menschen ein verlassenes Dorf

Von Oliver Kohlmaier

11.1.2023

Die Räumung in Lützerath hat begonnen — Tausende Menschen leisten erbittert Widerstand. Warum hat ein längst verlassenes Dorf im Rheinland so grosse Bedeutung? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Oliver Kohlmaier

11.1.2023

Nun geht es also los: Nach Wochen der Vorbereitung auf beiden Seiten haben Polizeikräfte aus fast allen deutschen Bundesländern mit der Räumung des kleinen Dorfs Lützerath im Rheinland begonnen.

Die Siedlung am Braunkohletagebau Garzweiler ist bereits im Vorfeld zu einem Symbol der Klimabewegung geworden. Aktivist*innen aus Deutschland und einigen Nachbarländern wollen die Räumung des Dorfes unbedingt verhindern.

Doch warum hat ein längst verlassenes Dorf so grosse Bedeutung? Und wird die darunter liegende Braunkohle überhaupt gebraucht? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Was ist Lützerath?

Lützerath ist ein Ortsteil der 43'000-Einwohner-Stadt Erkelenz im Westen des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen unweit der Millionenstadt Köln. Das Dorf befindet sich inzwischen direkt an der Kante des Braunkohletagebaus Garzweiler, einer bedrückend wirkenden Kraterlandschaft inmitten von Feldern und Streusiedlungen.

Die ursprünglichen Bewohner des Ortes sind längst weggezogen, doch die Gebäude werden seit längerem von Klimaaktivist*innen bewohnt. Ein Teil von ihnen lebt in Baumhäusern, Wohnwägen und Zelten.

Die Verortung von Lützerath und dem Tagebau Garzweiler.
Die Verortung von Lützerath und dem Tagebau Garzweiler.
dpa-infografik

Worum geht es in Lützerath?

Gleichwohl geht es nicht mehr um das Dorf selbst, das eigentlich nur ein Weiler ist. Die wenigen Häuser und Grundstücke gehören längst dem Energiekonzern RWE. Die ehemaligen Bewohner*innen haben den Ort schon vor Jahren verlassen und wurden vom Energiekonzern ausbezahlt. Die darunter liegende Kohle will RWE für die Stromgewinnung fördern.

Hintergrund ist eine Art Deal zwischen dem Energieriesen und der Bundes- sowie Landesregierung. Der Energiekonzern darf folglich die Kohle unter Lützerath ausbeuten — im Gegenzug wird der Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen um acht Jahre auf 2030 vorgezogen.

Materialschlacht auch in der Grube: Der Braunkohletagebau Garzweiler II.
Materialschlacht auch in der Grube: Der Braunkohletagebau Garzweiler II.
Rolf Vennenbernd/dpa

Warum wollen die Aktivist*innen Lützerath mit allen Mitteln schützen?

Unter dem Dorf befinden sich besonders grosse Braunkohlevorkommen, die RWE abbaggern will. Angesichts der dringend notwendigen Reduzierung der CO2-Emissionen halten nicht nur die Protestierenden die Räumung und die nachfolgende Förderung für inakzeptabel.

Bei der im Tagebau Garzweiler abgebauten Braunkohle handelt es sich um den Klimakiller schlechthin. Es wird mit einer zusätzlichen Förderung von 280 Millionen Tonnen zusätzlich gerechnet.

Der zuständige Kreis Heinsberg hatte den Aufenthalt in Lützerath untersagt. Auf dieser Basis kann die Räumung durch die Polizei erfolgen. Die rechtlichen Mittel sind indessen ausgeschöpft. Alle Klagen gegen einen Abriss sind von Gerichten abgewiesen worden.  

So hat das Verwaltungsgericht in Aachen das Aufenthaltsverbot für Lützerath inzwischen erneut bestätigt. Entsprechende Beschlüsse in zwei Eilverfahren seien am Dienstagabend zugestellt worden, teilte das Gericht am Mittwoch mit. Bereits in der vergangenen Woche waren Klimaaktivist*innen mit einem Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht gescheitert.

Deshalb errichten die Klimaaktivist*innen seit Wochen Barrikaden, Baumhäuser sowie Mono- und Tripods, die es den Polizeikräften besonders schwer machen sollen, das Gelände zu räumen. 

Polizeikräfte stehen am Rande des besetzten Braunkohleorts Lützerath. 
Polizeikräfte stehen am Rande des besetzten Braunkohleorts Lützerath. 
Rolf Vennenbernd/dpa

Wird die Braunkohle unter Lützerath wirklich gebraucht?

Der Energiekonzern, Europas grösster CO2-Emittent überhaupt, argumentiert insbesondere mit der Versorgungssicherheit beim Strom. Die Ausbeutung der Kohle sei nötig, um die Energieversorgung sicherzustellen, behauptet der Konzern.

Doch nicht nur die anwesenden Klimaaktivist*innen bezweifeln dies. Demnach reicht die Kohle im aktuellen Abbaubereich allemal aus – selbst unter den Bedingungen der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise. Dieser Lesart zufolge hat es RWE vor allem deshalb auf Lützerath abgesehen, weil sich die Kohle dort leichter und damit profitabler gewinnen lässt. 

Das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie Nordrhein-Westfalens hat ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben – und das kommt zu einem anderen Ergebnis. In mehreren untersuchten Szenarien übersteige der künftige Bedarf die förderfähigen Braunkohlenvorräte, wenn Lützerath nicht abgebaggert werde. Laut dem Gutachten von September 2022 fehlten in jedem Fall mindestens 17 Millionen Tonnen Braunkohle. Insbesondere 2023 werde es infolge der Gasknappheit zu einer noch grösseren Differenz kommen.

Doch auch diese Zahlen, auf die sich auch RWE bezieht, werden von zahlreichen Wissenschaftler*innen angezweifelt. So sei die Studie unter anderem in kürzester Zeit entstanden und basiere auf Fehlannahmen.

Wie lange soll die Räumung dauern?

Der Aachener Polizeichef Dirk Weinspach, nach eigenen Angaben selbst gegen den Abbau der Kohle, rechnet für die Räumung von Lützerath mit einer Einsatzzeit von rund vier Wochen. Nach seinen Angaben handelt es sich bei den Aktivist*innen in Lützerath um eine «gemischte Szene», die überwiegend «bürgerlich und friedlich orientiert» sei. Ein kleiner Teil sei aber zu Gewaltstraftaten bereit.

Der Energiekonzern RWE hat angekündigt, an diesem Mittwoch mit dem «Rückbau» zu beginnen. «Als eine der ersten Massnahmen wird aus Sicherheitsgründen ein gut anderthalb Kilometer langer Bauzaun aufgestellt», teilte der Konzern am Morgen mit. Der Zaun markiere demnach das betriebseigene Baustellengelände, wo der Konzern in den nächsten Wochen die restlichen Gebäude, Nebenanlagen, Strassen und Kanäle der ehemaligen Siedlung zurückbauen will. Zudem würden Bäume und Sträucher entfernt.

Der Konzern hat es indessen besonders eilig. Am 1. März endet die Rodungssaison in Deutschland, dann dürfen keine Bäume mehr gefällt werden. Sollte Lützerath bis dahin nicht geräumt sein, müsste der Konzern bis zum 1. Oktober warten, um den Baumbestand zu roden und mit dem Braunkohletagebau zu beginnen.

Was passiert nach der Räumung – und dem Kohleabbau?

Eine gute Vorstellung von den Dimensionen des Tagebaus Garzweiler geben die Pläne für das gewaltige Loch in der Landschaft. Ab 2030 soll es geflutet werden, unter anderem mit Wasser aus dem Rhein.

60 Millionen Kubikmeter Rheinwasser werden so jährlich in das Loch geleitet — 70 Jahre lang. Gemessen am Wasservolumen wird dort also der drittgrösste See Deutschlands entstehen, übertroffen nur vom Bodensee und vom Starnberger See.

Mit Material von dpa.

Deine Meinung interessiert uns

Schreib einen Kommentar zum Thema.