Erdogan oder neuer Kurs? Die Türkei steht am Scheideweg

AP/toko

11.5.2023 - 17:44

Am 14. Mai werden in der Türkei ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. 
Am 14. Mai werden in der Türkei ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. 
Khalil Hamra/AP/dpa

Die Türkei steht vor einer Schicksalswahl. Und das Rennen am Sonntag könnte äusserst eng werden. Wird das Land an seinem autoritären Präsidenten festhalten oder einen neuen Weg einschlagen?

11.5.2023 - 17:44

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am Sonntag wird in der Türkei eine neuer Präsident gewählt. 
  • Der Amtsinhaber Tayyip Erdogan steht wegen des Krisenmanagements nach dem Erdbeben, der schwachen Wirtschaft und hohen Inflation unter Druck. 
  • Kandidat Muharrem Ince gab am Donnerstag auf.
  • Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu voraus.

Die Türkei steht an einem Scheideweg. Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag wird sich zeigen, ob es einer vereinten Opposition gelingt, ein zunehmend autoritäres Staatsoberhaupt nach langen Jahren an der Macht aus dem höchsten Staatsamt in dem Nato-Land zu befördern. Die Wahlen könnten die Herrschaft von Präsident Recep Tayyip Erdogan in ein drittes Jahrzehnt ausdehnen – oder die Türkei auf einen neuen Kurs bringen.

Der 74-jährige Kemal Kilicdaroglu, Chef der säkularen CHP, ist Erdogans wichtigster Herausforderer, der gemeinsame Kandidat einer Sechs-Parteien-Allianz, die gelobt hat, das von Erdogan etablierte Präsidialsystem abzuschaffen und das Land wieder zu einer parlamentarischen Demokratie mit Gewaltenteilung zurückzuführen.

Wie die Oppositionsallianz insgesamt hat Kilicdaroglu die Unterstützung der prokurdischen Partei des Landes gewonnen, die ungefähr 10 Prozent der Stimmen ausmacht. Und laut Umfragen liegt er leicht vorn. Das Rennen ist so eng, dass es womöglich in einer Stichwahl zwischen den beiden führenden Kandidaten am 28. Mai entschieden werden wird.

Am Donnerstag gab jedoch Muharrem Ince seine Kndidatur für die Präsidentschaft auf. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung in der ersten Wahlrunde.

Erdogan verliert an Boden

Erdogan hat zum Teil wegen der schwachen Wirtschaft und hoher Lebenshaltungskosten im Land an Boden verloren. Zudem werden der Regierung schwere Mängel bei ihrer Reaktion auf das verheerende Erdbeben im Februar im Süden der Türkei mit Zehntausenden Toten vorgeworfen. «Das erste Mal seit Erdogan vor 20 Jahren an die Macht kam, ist er mit einer wirklichen Wahlherausforderung konfrontiert, (gegen) die er wirklich vielleicht verliert», sagt Özgür Ünlühisarcikli, Direktor des German-Marshall-Fund-Büros in Ankara.

Er spricht von zwei konkurrierenden Visionen. «Auf der einen Seite ist Präsident Erdogans Vision von einem Sicherheitsstaat, einer monistischen Gesellschaft, von Macht, die in den Händen der Exekutive konsolidiert ist», so Ünlühisarcikli. «Auf der anderen Seite ist die Vision – repräsentiert von Kilicdaroglu – von einer pluralistischeren Türkei (...), einer, die demokratisierter wird und...(in der) es eine klare Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative gibt.»

Kilicdaroglus Pläne: Dafür steht der Erdogan-Herausforderer

Kilicdaroglus Pläne: Dafür steht der Erdogan-Herausforderer

Kemal Kilicdaroglu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition, hat gute Chancen, neuer türkischer Präsident zu werden. Bei einem Wahlsieg will er die Türkei tiefgreifend reformieren. AFPTV erklärt, was der 74-Jährige vor hat.

09.05.2023

Der äusserst polarisierende Erdogan bewirbt sich um eine dritte Amtszeit als Präsident, nachdem er zuvor drei Amtsperioden als Ministerpräsident absolviert hatte. Der 69-jährige Chef der konservativen AKP ist bereits die am längsten dienende Führungsperson des Landes. Er hat seinen Wahlkampf auf vergangene Errungenschaften gestützt, sich als den einzigen Politiker präsentiert, der Leben und Land nach dem Erdbeben wiederaufbauen könne. Im Vorfeld der Wahlen gab er zudem grosszügig Staatsgelder aus, hat zum Beispiel den Mindestlohn und Renten erhöht, um die Folgen der Inflation abzumildern.

Terroristen und Säufer

Bei seinen Wahlkampfauftritten hat Erdogan versucht, die Opposition als Zusammenspieler mit «Terroristen» und ausländischen Kräften zu porträtieren, die der Türkei schaden wollten. Und im offensichtlichen Bestreben, seine konservative Basis zu konsolidieren, warf er seinen politischen Herausforderern vor, nach seinen Worten «abartige» LGBTQ-Rechte zu unterstützen und «Säufer» zu sein.

Derweil ist Kilicdaroglu eher ein Politiker der leise Töne, dem es gelungen ist, eine zuvor zersplitterte Opposition zusammenzubringen. Sein Sechs-Parteien-Bündnis, das Islamisten und Nationalisten einschliesst, hat versprochen, die Abkehr von demokratischen Rechten und Freiheiten unter Erdogan rückgängig zu machen und das harsche Vorgehen gegen Andersdenkende zu stoppen.

Es gibt nun mit Sinan Ogan noch einen weiteren Kandidaten im Rennen um die Präsidentschaft, aber ihm werden keine grossen Chancen eingeräumt.

Das Kernthema bei den Wahlen sind die Wirtschaft und hohe Inflation, die die Kaufkraft der Familien aufgefressen hat. So sagt Ladenbesitzer Cengiz Yel in Istanbul, dass er «für Wandel» stimmen werde, weil die Regierung die Wirtschaft falsch gehandhabt habe. «Wir sorgen uns wegen der Miete, der Elektrizität und anderer Rechnungen», sagt Yel. «Seit dem vergangenen Jahr habe ich jeden neuen Monat mit mehr Schulden begonnen.»

Andere bekunden ihre unverbrüchliche Treue zu einem Präsidenten, der die Infrastruktur im Land verbessert und in den frühen Jahren seiner Herrschaft viele Menschen aus der Armut geholt hat. «Ich liebe meine Nation. Ich möchte eine Führungsperson haben, die ihrer Nation dient», sagt Arif Portakal, ein 65-jähriger Erdogan-Anhänger in Istanbul.

Am Sonntag wird auch das 600-köpfige Parlament neu gewählt. Die Opposition würde zumindest eine Mehrheit benötigen, um einige der von ihr versprochenen demokratischen Reformen zu verwirklichen. Wahlberechtigt sind mehr als 64 Millionen Menschen, darunter 3,2 Millionen im Ausland lebende türkische Staatsbürger. Die Wahlbeteiligung in der Türkei ist traditionell hoch.

«Die Welt blickt auf uns»

Viele haben die Frage aufgeworfen, ob Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren würde. Es wird stark vermutet, dass er 2015 hinter den Kulissen daran gearbeitet hat, Koalitionsgespräche zu blockieren, nachdem seine Regierungspartei bei Wahlen ihre Mehrheit im Parlament verloren hatte. Sie erhielt sie bei Wiederholungswahlen ein paar Monate später zurück. 2019 focht die AKP die Ergebnisse örtlicher Wahlen in Istanbul an, bei denen sie den Bürgermeisterposten eingebüsst hatte. In diesem Fall erlitt sie aber bei der Wahlwiederholung eine noch grössere Schlappe als zuvor. 

Beobachter sind auch gespannt zu sehen, ob eine organisierte Opposition die Hürden überwinden kann, die Erdogans starke Kontrolle über die Medien und das Gerichtswesen im Land darstellt, und trotz allem einen friedlichen Regierungswechsel bewerkstelligen kann. 

«Die Welt blickt auf uns, denn dies ist auch ein Experiment, denn die Türkei, wie manche andere Länder, hat seit einiger Zeit einen autoritären Pfad verfolgt», sagt Ünlühisarcikli. «Und wenn diese Bahn durch Wahlen allein umgekehrt werden kann, könnte das ein Beispiel für andere Länder sein.»

AP/toko