Offensive in Charkiw West-Hilfe, geschockte Russen und ein ukrainischer Höhenflug

Von Philipp Dahm

14.9.2022

Ukraine setzt Gegenoffensive fort

Ukraine setzt Gegenoffensive fort

Die Ukraine hat nach Angaben des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mehr als 4000 Quadratkilometer des von den russischen Streitkräften zurückeroberten Territoriums vollständig unter Kontrolle.

14.09.2022

Die erfolgreiche ukrainische Offensive in Charkiw hält offenbar an: Wie die aktuelle Lage ist, was der Westen zum Vorstoss beigetragen hat und wie es kurz- und mittelfristig weitergehen könnte, erklären wir hier.

Von Philipp Dahm

14.9.2022

Als Präambel dieser Tweet der ukrainischen Abgeordneten Lesia Vasylenko:

Wie ist die aktuelle Lage?

Zum ersten Mal überhaupt in diesem Krieg hat der Kreml die Niederlage in Charkiw offen eingeräumt. Die neue Frontlinie im Osten dürfte zunächst der Fluss Oskil sein. Bei Borowa sollen ukrainischen Truppen jedoch bereits übergesetzt haben, berichtet das Washingtoner Institute for the Study of War.

Demnach hat Kiews Armee auch in der Umgebung von Lyman Boden gutgemacht. Die Stadt kann nun offenbar von drei Seiten attackiert werden: Dass der Eisenbahnknotenpunkt auch «Nordtor des Donbass'» genannt wird, sagt viel über die Bedeutung von Lyman aus.

Institute for the Study of War

An der Donezk-Front hat es hingegen kaum Bewegung gegeben, und auch in Cherson und in Saporischschja kann die Ukraine nur minimale Geländegewinne verzeichnen, so das Institute for the Study of War.

Warum die Flucht der russischen Soldaten?

Die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte in Charkiw sind nur deshalb möglich gewesen, weil die Geheimhaltung funktioniert hat und der Gegner geschockt werden konnte. In den sozialen Netzwerken sickerten keine Informationen durch, bevor die Armee plötzlich eine Schneise in Richtung des Flusses Oskil schlug.

Nach dem Vorstoss posten Soldaten Bilder und Videos, in denen ukrainische Flaggen gehisst werden. Russische Soldaten nördlich und südlich dieser Schneise gewinnen dadurch den Eindruck, dass sie eingekesselt werden. Zusammen mit dem Überraschungseffekt dürfte das der Auslöser für den fluchtartigen Rückzug gewesen sein. Diese Schockwirkung des ukrainischen Vorstosses scheint anzuhalten.

Welche Waffen wurden zurückgelassen? 

Laut «Foreign Policy» hat die Ukraine in der Charkiw-Offensive jede Menge Material erbeutet. «Sie haben Panzer, Artillerie und Spezialausrüstung zurückgelassen und einfach nur versucht, ihr Leben zu retten», sagt ein anonymer Militär dem US-Magazin. «Dieses Kriegsgerät wird gegen Russland benutzt werden.»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht am 14. September das befreite Isjum.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht am 14. September das befreite Isjum.
AP

Allein 200 erbeutete Panzer sollen nun dem ukrainischen Arsenal zugeführt werden. Was Moskau weiter schmerzen dürfte: Zwischen dem 6. und 11. September hat das ukrainische Militär angeblich russische Ausrüstung im Wert von 670 Millionen Dollar zerstört.

Was hat der Westen zum Vorstoss beigetragen?

Eine ganze Menge. Es beginnt schon bei der Planung, schreibt die «New York Times»: Demnach dränge der ukrainische Präsident zunächst auf eine Offensive im Süden, die Cherson einnehmen und Melitopol vom russischen Nachschub abtrennen soll. Teile der Armee und US-Experten rechnen für diesen Fall jedoch kaum mit Geländegewinn, doch dafür mit hohen Verlusten.

Eine Simulation ukrainischer und amerikanischer Militärs zeigt, dass diese Offensive scheitern würde. Kiews Generäle schlagen nun eine zweite Attacke in Charkiw vor. Auch dieser Angriff wird von Ukrainern, Briten und Amerikanern simuliert – und gutgeheissen. Eine Liste mit den benötigten Waffen wird dem Westen überstellt.

Diese sind für das Gelingen der Operation, die am 29. August beginnt, essenziell. Wie Bilder in sozialen Netzwerken zeigen, kommen in Cherson T-72-Panzer aus Polen und Tschechien, BMP Schützenpanzer, mobile Einheiten wie Jeeps sowie Artilleriesysteme Krab aus Polen und amerikanische Himars zum Einsatz.

In Charkiw sind ebenfalls besagte T-72-Panzer, M113 Schützenpanzer und mobile Fahrzeuge vom Typ Bushmaster aus Australien zu sehen, während MLRS aus Grossbritannien und Deutschland sowie die deutsche Panzerhaubitze 2000 das Rückgrat der Artillerie bilden. Neben dieser Schützenhilfe versorgt der Westen Kiew natürlich laufend mit geheimdienstlichen und militärischen Informationen.

Wie geht es in den nächsten Tagen weiter?

Die Frage ist, ob die russische Armee die Charkiw-Front am Oskil stabilisieren kann oder von den ukrainischen Soldaten noch weiter nach Osten gedrückt wird, um sich in einer Verteidigungslinie in Luhansk neu zu formieren. Kiew müsste in diesem Fall beachten, nur so schnell vorzurücken, wie es langsamere Einheiten wie Artillerie und Nachschub erlauben.

Und danach?

Regen weicht nun das Schlachtfeld auf, das ab Oktober immer schwerer zu passieren sein dürfte, bevor der Winter den Krieg einfriert. Die Kälte wird ein Problem werden: Der Nato-Generalsekretär hat die Mitglieder am 8. September deshalb aufgefordert, Kiew zu unterstützen.

«Der Winter kommt, und der Winter wird hart werden auf dem Schlachtfeld der Ukraine», sagte Jens Stoltenberg. Entsprechendes Material wie Kleidung werde dringend benötigt. Denn: «Die Grösse der ukrainischen Armee ist jetzt dreimal höher, als sie es im letzten Winter war.» Angeblich hat Deutschland bereits zugesagt, Generatoren und Zelte zu liefern.

USA sehen «Momentum» für ukrainische Truppen

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Die US-Regierung sieht angesichts der ukrainischen Gegenoffensive eine neue Dynamik im Krieg gegen Russland. Zuletzt hatten die ukrainischen Truppen grosse Gebiete im Nordosten des Landes zurückerobert. Russland spricht dagegen von einer «Umgruppi

14.09.2022

Dass Moskaus Truppe nicht auf den Winter vorbereitet ist, kann dagegen angesichts mieser Ausrüstung und Wartung des russischen Materials nicht überraschen. Angeblich habe die Regierung angesichts knapper Kassen sogar eine Sammel-Aktion für Winter-Uniformen gestartet, berichtet die «International Business Times» unter Berufung auf ukrainische Geheimdienstquellen.

Eine russische Mobilisierung ist vorerst nicht zu erwarten – auch die müsste ja akkurat ausgerüstet werden. Zudem stünden die Soldaten bereit, wenn der Winter Offensiven stark erschwert. Nicht zuletzt könnte die Unzufriedenheit mit Wladimir Putin steigen, wenn Russen zwangsweise an die Front geschickt würden.

Was braucht die Ukraine?

Kiews Herausforderung ist es, die mobilisierte Bevölkerung auch militärisch auszubilden. Das geschieht unter anderem in Grossbritannien, wo Ausbilder aus ganz unterschiedlichen Ländern den Rekruten das Kriegshandwerk lehren. Dieser Nachschub bleibt für die Ukraine essenziell.

Das Land bittet ausserdem weiterhin um westliche Waffen. Im Fokus stehen aktuell Kampfpanzer, die die Offensivkraft weiter steigern sollen. Im Visier hat Kiew neben dem amerikanischen Abrams den deutschen Leopard 2, doch sowohl Washington als auch Berlin zieren sich: Die USA fürchten, Abrams könnten das Verhältnis mit Moskau eskalieren lassen. Und Kanzler Olaf Scholz bereitet der Gedanke Kopfweh, dass deutsche Panzer – wieder – die russische Grenze überqueren könnten. 

Die deutsche Zurückhaltung regt Kiew auf. Es gebe kein Argument, keine Waffen zu liefern, erregt sich Aussenminister Dmytro Kuleba. Was ihn besonders enttäuschen dürfte: Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat laut «Tagesschau» auf eigene Kosten 16 Marder Schützenpanzer instand gesetzt, darf diese aber nicht ausführen. 70 weitere Marder stünden bereit, auf die die Ukraine aber vorerst nicht zählen kann.