Oberste Lehrerin der Schweiz «Diese Schnellkurse demontieren unseren Berufsstand»

Von Gil Bieler

21.8.2023

Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), sprach am 10. August 2023 in Bern über den Personalmangel an den Schulen.
Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), sprach am 10. August 2023 in Bern über den Personalmangel an den Schulen.
Bild: Keystone

Hunderte Lehrpersonen ohne Diplom müssen zum Schulstart einspringen. Das sieht Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer, kritisch. Sie sieht den Berufsstand in Gefahr. 

Von Gil Bieler

21.8.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Zum Start des Schuljahres 2023/24 müssen in der Schweiz Hunderte Personen einspringen, die nur eine Schnellbleiche erhalten haben.
  • Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin der Schweiz, spricht von einer Notlösung, die kein Dauerzustand werden dürfe: Der Inhalt eines Studiums lasse sich «unmöglich in einer Woche kompensieren».
  • Sie fürchtet sich um die Qualität des Unterrichts, aber auch um das Ansehen des Lehrer*innenberufs.

In vielen Kantonen treten am Montag Laien vor die Schulklassen, allein in Zürich sind es 620 Lehrpersonen ohne Diplom. Was sagt das über den Zustand des Schulsystems aus?

Das zeigt, dass wir in einer Notsituation sind, in der wir auf unkonventionelle Lösungen zurückgreifen müssen. Wir haben an vielen Orten viel pädagogisch ungeschultes Personal in den Schulen, was eine zusätzliche Belastung für Schulleitungen und geschulte Lehrpersonen bedeutet.

Im Kanton Schwyz konnten sich Laien in einem fünftägigen Crashkurs ausbilden lassen. Kriegt man in dieser Zeit das Nötigste mit für den Job?

Nein, da sprechen Sie richtigerweise von einem Crashkurs. Es geht hier nur um die wichtigsten Instrumente und Kenntnisse: Was muss man beachten, wenn man vor eine Klasse tritt? Welche Vorbereitungen braucht es? Wie funktioniert ein Noteneintrag? Die Lehrer*innen-Ausbildung dagegen ist nicht umsonst ein akademisches Studium, das mindestens sechs Semester umfasst. Das lässt sich unmöglich in einer Woche kompensieren.

Manche Lehrer*innen fragen sich jetzt, wieso sie überhaupt studiert haben.

Aus genau diesem Grund wehre ich mich auch dagegen, dass das jetzt zu einem Dauerzustand wird. Es wäre fatal, wenn sich die jungen Leute zu fragen beginnen: «Warum gehe ich drei Jahre an eine Pädagogische Hochschule, wenn ich das auch in einer Woche absolvieren kann?» Wenn wir die jungen Leute nicht mehr animieren können, die Ausbildung anzugehen, dann haben wir die Situation nicht mehr im Griff.

Sehen Sie den Ruf der Lehrer*innen in Gefahr?

Ja. Diese Schnellkurse demontieren unseren Berufsstand. Sie signalisieren: «Lehrer ist gar kein richtiger Beruf, das kann man auch einfach on the Job lernen.» Dazu dürfen wir als Vertretung von Lehrerinnen und Lehrern keinesfalls Ja sagen.

Sind diese Quereinsteiger*innen eine Unterstützung oder Belastung für die diplomierten Lehrpersonen?

Es ist beides. Zum einen ist man sehr, sehr dankbar dafür, dass Menschen einspringen und dafür sorgen, dass der Unterricht überhaupt starten kann. Zum anderen ist es ein Zusatzaufwand für ein Team, wenn man diese Laienlehrpersonen unterstützen und coachen muss. Dinge, die Lehrer*innen während des Studiums lernen, müssen sie ihnen auch noch beibringen, zusätzlich zum eigenen Arbeitspensum. Diesen Aufwand darf man nicht unterschätzen.

Wenn man Ihnen zuhört, halten Sie sehr wenig von Quereinsteiger-Modellen.

Nirgends sonst wird die Ausbildung so in Frage gestellt wie bei uns. Ein Busfahrer muss eine Ausbildung absolvieren, um einen Bus fahren zu dürfen. Jede Pflegefachfrau muss in eine Ausbildung, damit sie überhaupt mit Patient*innen arbeiten darf. Wieso sollte dies in unserem Beruf anders sein? Als Lehrperson muss man mehr mitbringen als gerne vor eine Klasse stehen und Freude an der Arbeit mit Kindern haben.

An der PH lernt man nebst dem Fachwissen auch, wie man dieses Fachwissen vermittelt. Wie man auf das unterschiedliche Lernverhalten von Kindern eingeht, wenn eines den Schulstoff schneller begreift und eines langsamer. Wie führe ich eine Klasse? Wie führe ich Elterngespräche? Und so weiter. Wenn Lehrpersonen diesen Rucksack nicht mitbekommen, leidet die Bildungsqualität.

In einigen Kommentaren werden Lehrer*innen jetzt kritisiert. Sie hätten einen falschen Berufsstolz. Trifft Sie dieser Vorwurf?

Nein, denn ich kann diese Kritik nicht nachvollziehen. Wieso sollten wir Lehrer*innen keinen Berufsstolz haben dürfen? Und darauf hinweisen, dass es eine solide Ausbildung braucht, wie für jeden anderen Beruf auch?

Aber es ist schon so: Nur, weil jemand das Lehrdiplom gemacht hat, leistet er oder sie danach gute Arbeit?

Ein Diplom garantiert tatsächlich nicht, dass jemand einen guten Job macht. Aber diese Garantie gibt es in keinem Beruf. Schwarze Schafe gibt es in jedem Beruf. Dieses Argument lasse ich darum nicht gelten.

Wie kann es gelingen, die neu eingestiegenen Laien längerfristig an den Schulen zu halten?

In dieser Notsituation besteht durchaus die Chance, dass manche Personen ohne pädagogische Ausbildung ihre Passion gefunden haben und auch nach einem Jahr für den Beruf brennen. Ihnen muss man ermöglichen, die Ausbildung nachzuholen und sie dabei unterstützen. Es dürfen keine Schleusen geöffnet werden im Sinne von: «Du hast es gut gemacht, du kannst jetzt einfach bleiben.» Denn, wer eine Ausbildung macht, bleibt wohl auch eher langfristig im Beruf.

Der Lehrerinnen- und Lehrer-Dachverband kritisierte vor den Medien jüngst, dass diese Krise hätte verhindert werden können. Was hat die Politik falsch gemacht?

Spätestens seit dem Bildungsbericht 2018 wusste man, welche demografischen Probleme sich einstellen werden. Mein Eindruck ist, dass die Politik das aber versuchte auszusitzen. Die Hilferufe aus den Schulen wurden als Jammern auf hohem Niveau abgetan, nach dem Motto: «Die Lehrer reklamieren sowieso immer, es findet sich dann schon eine Lösung.» Mittlerweile sieht man, dass die Schulen an der Belastungsgrenze angelangt sind. Und wir sehen erstmals, dass Bewegung in die Sache kommt.

Ihr Verband will im Herbst einen «Aktionsplan Bildungsqualität» vorlegen. Können Sie verraten, was drinsteht?

Nein. Im November kann ich dann aus dem Vollen schöpfen.

Dagmar Rösler äusserte sich schon vor dem Schulstart 2022/23 äusserst skeptisch zu Lehrpersonen ohne Diplom:

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