Intersexualität «In der Schweiz sind Genitalverstümmelungen an der Tagesordnung»

Von Sven Hauberg

1.4.2021

Neugeborenes Baby: In Deutschland soll es künftig verboten sein, an Kindern geschlechtsangleichende Eingriffe vorzunehmen.
Neugeborenes Baby: In Deutschland soll es künftig verboten sein, an Kindern geschlechtsangleichende Eingriffe vorzunehmen.
Bild: Keystone

In Deutschland werden geschlechtsangleichende Operationen bei Kindern verboten. In der Schweiz aber sind die Eingriffe weiterhin erlaubt. «Ich leide bis heute», sagt eine Betroffene.

Von Sven Hauberg

1.4.2021

Gut und böse, hell und dunkel, männlich und weiblich: Der Mensch teilt die Welt gerne in Kategorien ein, weil das die komplexe Wirklichkeit übersichtlicher erscheinen lässt. Aber ganz so einfach ist die Realität dann oft doch nicht. So wird nicht jeder Mensch mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die sich eindeutig der Kategorie Mann oder Frau zuordnen lassen. Intersexuelle Menschen stehen zwischen den Geschlechtern.

Für Eltern ist die Geburt eines intersexuellen Kindes oft ein Schock. Junge oder Mädchen? Wenn die Verwandtschaft fragt, was «es» denn nun geworden ist, fällt ihnen eine Antwort schwer. Oft werden deshalb kurz nach der Geburt geschlechtsangleichende Eingriffe vorgenommen – Ärzte greifen zum Skalpell und legen so fest, ob das Neugeborene fortan als Junge oder als Mädchen weiterleben soll. Ein Eingriff, der traumatisieren kann, denn oft merken die Betroffenen erst mit Beginn der Pubertät, ob sie sich als Mann oder als Frau fühlen. Dann aber ist es vielfach schon zu spät.

Inter oder trans?

Intersexuelle Menschen werden mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren. Andere Bezeichnungen sind etwa «intergeschlechtlich» oder «inter*». Transsexuelle Menschen hingegen besitzen in der Regel eindeutige Geschlechtsmerkmale, fühlen sich ihrem biologischen Geschlecht aber nicht zugehörig. Oftmals lassen sie ihr Geschlecht deshalb durch Eingriffe angleichen.

In Deutschland sollen solche Eingriffe bei Kindern künftig verboten sein. In der vergangenen Woche beschloss der Bundestag, dass geschlechtsangleichende Operationen nur noch mit wenigen Ausnahmen erlaubt sind, etwa, wenn Lebens- oder Gesundheitsgefahr für das Kind besteht. Eltern und Ärzte dürfen also nicht mehr ohne weiteres über das Geschlecht eines intersexuellen Kindes entscheiden.

«In der Schweiz sind Intersex-Genitalverstümmelungen aber immer noch an der Tagesordnung», sagt Markus Bauer von der Selbsthilfegruppe «Intersex.ch» gegenüber «blue News». Bezahlt würden die Eingriffe von der Invalidenversicherung. Schweizer Kinderkliniken stritten zwar ab, solche Operationen vorzunehmen, so Bauer. «Aufgrund von aktuellen parlamentarischen Anfragen unter anderem in Zürich und Genf ist jedoch klar, dass weiter operiert wird.»

«Mit sieben Jahren wurde mein Genital verstümmelt»

Intersex-Genitalverstümmelungen müssten endlich unter Strafe gestellt werden, fordert Daniela Truffer. Sie engagiert sich ebenfalls in der Selbsthilfegruppe und wurde selbst mit uneindeutigen Genitalien geboren. «Die Ärzte wussten nicht, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin», erzählt sie «blue News». Als Baby wurde sie kastriert, «mit sieben Jahren wurde mein Genital verstümmelt, damit ich mehr wie ein Mädchen aussehe». Erst als Erwachsene, sagt Truffer, «entdeckte ich via Internet, dass ich nicht allein bin und dass es Selbsthilfegruppen gibt». 

Wie viele Menschen intersexuell sind, ist nicht bekannt. «Es gibt nach wie vor keine Zahlen», sagt Markus Bauer. «Die plausibelste Schätzung ist, dass ein bis zwei von 1000 Neugeborenen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung auf die Welt kommen.» Zahlen über die Anzahl der Eingriffe, die von der Invalidenversicherung bezahlt würden, wolle der Bundesrat nicht veröffentlichen, so Bauer.

In Deutschland sollen Schätzungen zufolge 160'000 intersexuelle Menschen leben. Das Gesetz, das nun vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, geht vielen Betroffenen allerdings nicht weit genug. «Unter anderem versäumt es, Intersex-Genitalverstümmelungen zu kriminalisieren oder angemessen zu sanktionieren», sagt Daniela Truffer. Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne fordern ein Zentralregister für geschlechtsverändernde Behandlungen. Betroffene sollen so die Möglichkeit erhalten, sich über Eingriffe informieren zu können, die lange zurückliegen.

«Ich leide bis heute an dieser unmenschlichen Behandlung»

In der Schweiz forderte die Nationale Ethikkommission schon vor knapp zehn Jahren, die hierzulande gängige Praxis zu überdenken. «Bundesrat und Politik weigern sich jedoch bis heute, entsprechende Massnahmen zum Schutz von Intersex-Kindern zu ergreifen», kritisiert Bauer. Die Eingriffe, die bei intersexuellen Kindern vorgenommen werden, sind brutal: So wird in manchen Fällen der Penis operativ entfernt, in anderen die Vagina verschlossen. «Doch dann kann es natürlich sein, dass das Kind sich in genau die andere Richtung entwickelt», so der deutsche Experte Dr. Kurt Seikowski im «Spiegel».

Für Daniela Truffer ist das Problem die fehlende Einwilligung. «Ich leide bis heute an den psychischen und physischen Folgen dieser unmenschlichen Behandlung», sagt sie über die Eingriffe, die an ihr vorgenommen wurden. «Zehn Jahre Psychoanalyse habe mir das Leben gerettet, bezahlen musste ich ein Drittel davon selber.» Sich vor Gericht gegen das zu wehren, das ihr als Kind angetan wurde, kann sie nicht. «Wegen der Verjährungsfristen habe ich keine Möglichkeit, juristisch Gerechtigkeit einzufordern.»