Calmy-Rey über die Neutralität «Der Bundesrat kommunizierte extrem schlecht, ja katastrophal»

Von Alex Rudolf, Nicolas Barman und Fabienne Berner (Video)

8.6.2022

Micheline Calmy-Rey: «Niemand hat den Bundesrat so richtig verstanden»

Micheline Calmy-Rey: «Niemand hat den Bundesrat so richtig verstanden»

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey kennt sich auf dem internationalen Parkett der Diplomatie bestens aus. Im Video-Interview mit blue News erklärt sie, was der Bundesrat hätte besser machen können.

02.06.2022

Wird die Schweiz künftig die ukrainischen Interessen in Russland vertreten? Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey sagt, was von der Wiederaufbaukonferenz in Lugano zu erwarten ist.

Von Alex Rudolf, Nicolas Barman und Fabienne Berner (Video)

Frau Calmy-Rey, wie schätzen Sie die Lage in der Ukraine ein?

Der Westen hat die Entscheidung getroffen, den Krieg auf das ukrainische Territorium zu beschränken, und schliesst eine direkte Beteiligung in der Ukraine aus. Man lässt die Ukraine also auf ihrem Territorium kämpfen, selbst wenn man ihr immer raffiniertere Waffen und militärische Ausrüstung schickt. Der Übergang von humanitärer zu militärischer Hilfe kommt einer Form von Co-Kriegsführung nahe. Alles ist eine Frage der Nuancen.

Und nun?

Heute werden Stimmen laut, die einen vollständigen Sieg der Ukraine bevorzugen, mit dem Argument, dass der Westen ganz Osteuropa verlieren wird, wenn es uns nicht gelingt, Russland aufzuhalten. Ich stelle fest, dass sowohl auf der amerikanischen als auch auf der ukrainischen Seite die Rhetorik ziemlich hart ist. Frankreich und Deutschland, die einen Dialog mit dem russischen Präsidenten aufrechterhalten, werden kritisiert. Die Spannungen zwischen den europäischen Ländern könnten sich mit der Zeit verschärfen.

Können Russland und Wladimir Putin irgendwann wieder Teil der internationalen Gemeinschaft werden?

Heute ist die Zeit für Diplomatie noch nicht gekommen. Denn sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite besteht die Hoffnung auf einen Sieg. Für Russland geht es darum, mehr Territorium zu gewinnen, und für die Ukraine darum, Russland hinter seine Grenzen zu drängen. Solange es also solche Aussichten gibt, hat die Diplomatie leider keine grossen Chancen. Mit der weltweiten Energie- und Nahrungsmittelkrise, der grossen Zerstörung und Tausenden von Toten gerät der Krieg ins Stocken.

Zur Person
Fabienne Berner

Micheline Calmy-Rey sass zwischen 2003 und 2011 für die SP im Bundesrat und war Vorsteherin des Aussendepartements. Aufgrund ihrer Aufgabe als Aussenministerin wurde die Neutralität zu ihrem Spezialgebiet, über das sie 2020 ein Buch veröffentlicht hat. Heute unterrichtet sie als Gastdozentin an der Universität Genf.  Sie ist Mutter von zwei Töchtern.

Was würde ein Waffenstillstand bedeuten?

Ein Waffenstillstand würde einen Teilsieg Russlands bedeuten. Es ist illusorisch zu glauben, dass Russland sich hinter seine Grenzen zurückziehen und die von ihm eroberten Gebiete wieder abgeben würde. In der gegenwärtigen Situation würde ein Waffenstillstand Russland auch die Fähigkeit verleihen, den Konflikt jederzeit neu zu beginnen. So wie Russland dies vor nunmehr über drei Monaten ungeachtet der Minsker Vereinbarungen getan hat.

«Die Vereinten Nationen sind machtlos, und das ist traurig, ja sogar gefährlich für ein Land wie die Schweiz.»

Im Juli wird Bundespräsident Cassis in Lugano eine Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine organisieren. Was halten Sie von dieser Initiative?

Die Konferenz in Lugano wird sich mit der Frage des Wiederaufbaus der Ukraine und seiner Finanzierung befassen. Da die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, und der französische Präsident, Emanuel Macron, bereits ihre Absicht diesbezüglich geäussert haben, wird es Aufgabe der Schweizer Diplomatie sein, sich gut mit der EU abzustimmen, um nicht als Konkurrenz zu erscheinen.

Es bleibt auch abzuwarten, welche Haltung die Schweiz gegenüber der Beschlagnahmung von Oligarchengeldern einnehmen wird, ein Thema, das viel diskutiert wird und meiner Meinung nach in Lugano schwer zu vermeiden sein wird.

Wie wird die Schweiz ihre Vermittlerrolle wahrnehmen?

Die Schweiz wird die Konferenz nicht nur beherbergen, sondern auch Gehalt in die Friedensgespräche einbringen. Die Schweiz serviert nicht nur den Kaffee, sondern kocht auch das Essen.

Zudem: Wenn zwei Staaten keine diplomatischen Beziehungen mehr unterhalten, kann ein Drittstaat die Verbindung zwischen den beiden Staaten herstellen. Die Schweiz stellt diese Verbindung her, insbesondere vertritt sie die amerikanischen Interessen im Iran, die russischen Interessen in Georgien und umgekehrt. Nach den uns vorliegenden öffentlichen Informationen würde die Schweiz über die Vertretung der ukrainischen Interessen in Russland verhandeln. Ein Szenario für die Zukunft.

Sie haben das Buch «Neutralität: Zwischen Mythos und Vorbild» geschrieben: Hätten Sie gedacht, dass dieses Thema in so kurzer Zeit zu einem der heissesten politischen Themen werden würde?

Die Debatte um die Neutralität hat sich tatsächlich intensiviert, was mit dem Krieg in der Ukraine begründet wird. Heute wendet die Schweiz das Neutralitätsrecht an. Wir liefern den Kriegsparteien keine Waffen und verbieten ihnen die Nutzung des Schweizer Luftraums. Hätte der Bundesrat diesen Sachverhalt klarer kommuniziert, würden sich die Fragen zum Neutralitätsrecht nicht stellen.

Es sind eher die Wirtschaftssanktionen, die zu Reden geben.

Die von der Schweiz ergriffenen Wirtschaftssanktionen verstossen nicht gegen die Neutralität. Stellen wir uns vor, dass auf die Sanktionen verzichtet wird. Die Schweiz hätte damit die Umgehung der Sanktionen anderer ermöglicht und wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit Ziel von Vergeltungsmassnahmen der USA und der EU geworden. Indirekt hätte dies bedeutet, Partei für Russland, den Aggressor, zu ergreifen. Wirtschaftssanktionen sind kein kriegerischer Akt. Im Gegenteil, sie sollen die Kriegsparteien dazu ermutigen, die internationale Ordnung und den Frieden wiederherzustellen.

«Die Schweiz kann Waffen nach Saudi-Arabien schicken, aber nicht in die Ukraine. Es herrscht eine gewisse Inkohärenz, und deshalb müssen wir den Begriff Krieg besser definieren.»

Dennoch schrieben die Medien von Washington bis Moskau, dass die Schweiz die Neutralität aufgegeben habe.

Der Bundesrat kommunizierte extrem schlecht, ja sogar katastrophal. Er versäumte es, die Positionen der Schweiz bei der Pressekonferenz zu Beginn des Krieges klar darzulegen. Niemand verstand etwas.

Vor Kurzem hat Ignazio Cassis sein Modell der kooperativen Neutralität vorgestellt – ein etwas schwammiger Begriff. Was halten Sie davon?

Die Schweizer Neutralität beruht auf der Achtung des Völkerrechts. Man ergreift nicht Partei für ein Land, man ergreift Partei für das Recht, und wer die Regeln nicht einhält, wird verurteilt.

Der Kern der Neutralität ist der Verzicht auf aggressive militärische Gewalt zur Lösung von Problemen. Heute dominieren die Mächtigen, die Souveränität der Staaten wird auf Kosten des Dialogs und des Multilateralismus in den Vordergrund gestellt. Die Vereinten Nationen sind machtlos, und das ist traurig, ja sogar gefährlich für ein Land wie die Schweiz, denn wir sind keine Grossmacht und unsere Sicherheit beruht zum grossen Teil auf Regeln, die für alle Staaten gelten. Der Krieg in der Ukraine sollte uns dazu bringen, über eine neue Sicherheitsarchitektur auf dem europäischen Kontinent nachzudenken.

«Das Neutralitäs-Modell der SVP ist letztlich ein Geschäftsmodell.»

Was sind die grössten Herausforderungen für die Neutralität?

Sie liegen sicherlich nicht in einer neuen Definition der Neutralität mit ihren vielen Unklarheiten, sondern vielmehr in ihrer Anwendung auf die Komplexität der Kriege, die wir erleben. Diese werden immer komplexer, Bürgerkriege, Stellvertreterkonflikte und Cyberkriege sind vom Neutralitätsrecht nicht betroffen. Die Schweiz kann Waffen nach Saudi-Arabien schicken, aber nicht in die Ukraine. Es herrscht eine gewisse Inkohärenz, und deshalb müssen wir den Begriff Krieg besser definieren.

Gehört das Wort «Neutralität» in die Bundesverfassung, wie es wahrscheinlich von der SVP gefordert wird?

Das Ziel der SVP ist es, Wirtschaftssanktionen als Kriegshandlungen zu betrachten und folglich im Fall des Krieges in der Ukraine die Schweiz daran zu hindern, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Eine solche Definition würde die Wirtschaft fördern, indem sie es ermöglicht, weiterhin Handel zu treiben, als wäre nichts geschehen, mit einem Wettbewerbsvorteil. Ich denke hier an Südafrika, als die Schweiz keine Sanktionen gegen das Apartheidregime verhängte und wirtschaftlich davon profitierte. Dies brachte ihr enorme Kritik ein. Das Modell der SVP ist letztlich ein Geschäftsmodell.