Ausgeloste Bürgerpanels «So erreichen wir Menschen, die die Politik sonst nicht erreicht»

Von Lia Pescatore

2.4.2022

Wie kann Winterthur nachhaltiger werden? In Gruppen diskutieren die Teilnehmenden des Bürgerpanels mögliche Massnahmen.
Wie kann Winterthur nachhaltiger werden? In Gruppen diskutieren die Teilnehmenden des Bürgerpanels mögliche Massnahmen.
Thomas Ghelfi @esieben.ch

Sie sollen laut Politologen die Politik-Müdigkeit bekämpfen und Minderheiten politisieren: Bürger*innenräte, in denen das Los entscheidet, wer mitmachen darf. blue News war am Bürgerpanel in Winterthur dabei.

Von Lia Pescatore

2.4.2022

Das Winterthurer Auditorium ist an diesem Samstagmorgen erfüllt von lautem Stimmengewirr. Vom Schneegewirbel draussen lassen sich die 22 Menschen, die da angeregt diskutieren, nicht ablenken. Ihre Konzentration gilt dem Gespräch sowie dem Papier, das zwischen ihnen liegt und auf dem sie immer wieder ihre Ideen notieren.

Sie haben eine klare Mission: Der Stadt Winterthur aufzuzeigen, wie sie das Thema Ernährung nachhaltiger prägen könnte.

Die Initiative, ein solches Bürgerpanel in Winterthur durchzuführen, kommt von der Zürcher Regierungspräsidentin Jacqueline Fehr. Die Winterthurer Bevölkerung soll mitwirken bei der Umsetzung des Ziels Klimaneutralität bis 2040, das sie an den letzten Abstimmungen durchgewunken hat. 

An den fünf Tischen wird darum auch angeregt diskutiert, über Wochenend-Märkte, Ernährungsräte und Ökobilanzen von verschiedenen Lebensmitteln. Drei Stunden lang debattieren sie, immer wieder in neuen Konstellationen. Das Blattpapier wird mit jeder Runde ein wenig bunter. In aller Munde ist besonders das Thema der Sensibilisierung der Kinder und Jugendlichen: «Eine Plakatkampagne wäre gut, die Junge anspricht», ist an einem Tisch zu hören, «Aber nicht so peinlich wie die Impf-Kampagne am Bahnhof Zürich», man lacht – nicht zum ersten und letzten Mal. Die Stimmung ist ausgelassen, freundschaftlich.

«Das Kennenlernen war wichtig, um Mauern abzubauen»

Es ist bereits das zweite Wochenende, das die Teilnehmenden zusammen bestreiten. Vor zwei Wochen sind sie zum ersten Mal zusammengekommen, um Fachexperten zuzuhören und sich gegenseitig kennenzulernen. Mittels eines Speeddatings haben sich die Teilnehmenden über ihre Einstellungen zu Gesellschaft, Mitsprache und eben zum Klima ausgetauscht.

Dieser Part sei sehr wichtig gewesen, «um Mauern abzubauen», sagt Katja Breitenmoser. Sie übernimmt die Moderation der Diskussionen. Punkte wie das Alter oder der Beruf wurden bewusst rausgehalten: «Es zählt der Mensch in seiner Vielfalt», sagt Breitenmoser, es sollten keine Hierarchien entstehen, weder durch Alter noch durch Ausbildung, «die gibt es sonst schon genug».

«Es zählt der Mensch in seiner Vielfalt»: Moderatorin Katja Breitenmoser leitet die Diskussionsrunden am  Bürgerpanel in Winterthur. 
«Es zählt der Mensch in seiner Vielfalt»: Moderatorin Katja Breitenmoser leitet die Diskussionsrunden am  Bürgerpanel in Winterthur. 
Thomas Ghelfi @esieben.ch

Eine Rolle spielten Alter und Ausbildung hingegen beim Auswahlverfahren der Teilnehmenden. Dieses verlief mehrstufig: 3000 zufällig ausgewählte Menschen hat die Stadt Winterthur in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Demokratie Aarau angeschrieben. Aus den 209 Interessierten wiederum wurden 22 ausgelost – und zwar nach einem komplizierten Verfahren. Punkte wie Geschlecht, Alter, Bildungsstand, aber auch die politische Ausrichtung und das Abstimmungsverhalten wurden berücksichtigt.  «Das Panel soll möglichst einem Spiegelbild der Stadt Winterthur gleichkommen», sagt Politologe Nenad Stojanović, der an der Verlosung mitgewirkt hat und bereits ähnliche Projekte in Genf und Sitten betreut hat. 

«Bürgerpanels können eine Antwort auf diese Müdigkeitserscheinungen sein.»

Nenad Stojanović

Politologe

Die Bürgerpanels seien eine «demokratische Innovation», die die Schweiz brauche: «In der Demokratie zeichnet sich weltweit eine Krise ab», in der Schweiz zeige sich dies an der sinkenden Stimmbeteiligung an den Wahlen aber auch an den Bundesratsparteien, die an Rückhalt verlieren.  «Bürgerpanels können eine Antwort auf diese Müdigkeitserscheinungen sein», ist Stojanović überzeugt. 

Denn: «Mit dieser Methode erreichen wir Menschen, die die Politik bisher nicht erreicht hat», sagt er. Das Interesse an den Bürgerpanels sei gerade bei Frauen und Minderheiten wie zum Beispiel Migranten besonders gross. «Offenbar gibt es hier eine niedrigere Hemmschwelle, als sich bei Wahlen als Kandidat oder Kandidatin aufzustellen.»

«Ich bin überrascht, wie wenig Widerspruch es gibt»

Auch in Winterthur zeigt sich ein bunt-durchmischtes Bild: An den Tischen wird meistens auf Schweizerdeutsch, teilweise auf Hochdeutsch diskutiert. Eine Frau hat ihre Freundin mitgebracht, die für sie auf Kurdisch übersetzt, falls sie nicht alles versteht. Von der Teilnahme hat sie die Sprachbarriere nicht abgehalten: «Ich wollte es einfach ausprobieren und habe es als Herausforderung gesehen», sagt sie zu blue News. Ihren Namen in einem Artikel lesen will sie nicht.

Bereits nachhaltig beeinflusst haben die Erfahrungen am Bürgerpanel die 16-Jährige Patricia Kappeler. Sie schaue bei den Lebensmitteln genauer hin: «Das ist mein zweiter Kaffee seit dem letzten Wochenende», auch Schokolade könne sie nur noch mit schlechtem Gewissen essen, nachdem sie mehr über deren Ökobilanz erfahren habe. Sie sei schon früh in Kontakt mit der Politik gekommen, da ihr Vater selbst SP-Politiker sei. Am Panel hatte sie sich eigentlich auf mehr Meinungsverschiedenheiten eingestellt, gerade weil es Teilnehmende vom ganzen politischen Spektrum habe. «Ich bin überrascht, wie wenig Widerspruch es gibt», sagt sie. Alle seien überzeugt, dass etwas getan werden müsse. 

«Ich liebe es zu diskutieren und so meinen Standpunkt zu prüfen»

Auch der 67-jährige Richard Mosimann, früher Elektromechaniker und technischer Kaufmann, war erstaunt über den grossen Konsens – für seinen Geschmack fast ein wenig zu gross. «Ich liebe es zu diskutieren und so auch meinen Standpunkt zu überprüfen», erklärt er. Politisch sieht er sich «zwischen AfD und SVP». Das Bürgerpanel habe ihm mehr Verständnis für die andere Seite gebracht, auch für die Position der Stadt. Dennoch sieht er gewisse der vorgeschlagenen Massnahmen skeptisch: Sie gingen zu fest ins Detail, «mir fehlt der Bezug zum Grossen».

Noch sind die Diskussionen noch nicht zu Ende. Bis morgen haben Kappeler und Mosimann und die anderen Panel-Teilnehmenden Zeit, sich auf Massnahmen zu einigen und einen Bürgerbrief zu verfassen. Adressat ist der Stadtrat von Winterthur. Ob die Massnahmen überhaupt Realität werden, entscheidet jedoch die Politik. Der Stadtrat will bis Ende 2022 informieren, welche Empfehlungen in welcher Form umgesetzt werden sollen. 

Stojanović will Bürgerpanels institutionalisieren

Dass der Bürgerbrief jedoch auch die breite Bevölkerung interessiert, zeigen Erfahrungen aus Uster, wo im November ein Bürgerpanel ebenfalls zum Thema Klimaschutz durchgeführt wurde. Über 100 Menschen seien einer Einladung gefolgt, sich an einem Bürgercafé über die vorgeschlagenen Massnahmen zu unterhalten, erzählt Politologe Stojanović.  Die Empfehlungen zum Schluss drehten sich dann aber nicht nur ums Klima: «Die Menschen wünschten sich explizit mehr solche Bürgerpanels generell».

Er wünscht sich darum, dass Bürgerpanels in der Schweiz institutionalisiert werden. In Ost-Belgien sei dies bereits der Fall. Seit zwei Jahren tagt dort regelmässig ein Bürgerrat bestehend aus 24 Mitgliedern, der sich alle 18 Monate um ein Drittel erneuert.

«Das könnte auch in der Schweiz der nächste Schritt sein», sagt Stojanović. «Bürgerräte sollen die bestehenden Institutionen nicht ersetzen, aber diese in einer beratenden Funktion unterstützen», zum Beispiel beim Erarbeiten eines neuen Gesetzes. Hätte der Bundesrat den Entwurf des CO2-Gesetz einem Bürgerpanel im Rahmen der Vernehmlassungsverfahren vorlegen können, hätte man frühzeitig die Schwächen aufzeigen und schlussendlich den Gesetz mehrheitsfähiger machen können, ist Stojanović überzeugt.