Gefährdeter ArbeitsfriedenDie Streiklust der Schweizer*innen steigt
amo
19.10.2022
Proteste in Frankreich weiten sich aus
In Frankreich haben mehrere Gewerkschaften und linke Oppositionspolitiker zu Demonstrationen gegen hohe Preise und die geplante Rentenreform aufgerufen. Schon seit mehreren Wochen wird in Raffinerien gestreikt; zudem gibt es Ausstände im Bahnverkehr
18.10.2022
Aus Protest die Arbeit niederzulegen, ist unter vielen Arbeitskräften verpönt. Trotzdem drohen Gewerkschaften in mehreren Branchen mit Streiks. Wirtschaftsvertreter befürchten eine zunehmende Streiklust.
amo
19.10.2022, 16:54
Was lange ein Szenario aus dem Ausland war, ist in der Schweiz angekommen: Gleich in mehreren Branchen drohen die Gewerkschaften derzeit mit Streik. Und das, obwohl die Schweiz bislang als streikfreies Land galt.
Swiss-Piloten wollen Ende Oktober auf dem Boden bleiben. Über 20'000 Arbeiter stimmten jüngst für einen landesweiten Stillstand auf Baustellen. In Genf streikten letzte Woche die Angestellten der Verkehrsbetriebe TPG. Diese Woche legen Taxifahrer*innen ihre Arbeit nieder.
Wirtschaftliches Umfeld begünstigt Streiklust
Gewerkschaften würden sich heutzutage weniger vor Streiks scheuen, sagt Christian Koller, Historiker und Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, im «Blick». Früher hätten vor allem Arbeitskräfte von grossen Firmen oder ganzen Branchen wie dem Bau gestreikt. Inzwischen seien es öfter auch Angestellte von kleineren Betrieben. Auch in Geschäften und bei Lieferfirmen werde gestreikt.
Koller geht davon aus, dass das wirtschaftliche Umfeld die Streiklust zunehmend begünstigt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien wegen des Fachkräftemangels ausserdem in einer stärkeren Verhandlungsposition.
48-mal mehr Streiktage in Frankreich
Die Arbeit aus Protest niederzulegen, ist in der Schweiz jedoch bei vielen Arbeitskräften verpönt. Ganz anders sieht das im Ausland aus. Pro Kopf gerechnet komme beispielsweise Frankreich auf 48-mal mehr Streiktage. Dort wird seit über drei Wochen in Raffinerien gestreikt. Die politisch sehr links stehende Gewerkschaft CGT fordert unter anderem eine Lohnerhöhung von 10 Prozent.
Auch in Deutschland wird öfter gestreikt als in der Schweiz. Aktuell sorgt der Eurowings-Pilotenstreik für Schlagzeilen. Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) pocht auf Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und hält das zuletzt vorgelegte Angebot des Arbeitgebers für mickrig. Eurowings bot unter anderem zehn zusätzliche freie Arbeitstage im Jahr. Die VC will 14. Das Management ist bereit, die maximale Wochenarbeitszeit um drei auf 52 Stunden zu reduzieren. Die VC fordert fünf Stunden weniger.
Schweiz gilt als relativ streiksicher
Gerade weil Streiks in der Schweiz bislang selten waren, sei die Schweiz für internationale Firmen so attraktiv. Wenige Streiks und motivierte Mitarbeiter würden Planungssicherheit bedeuten, sagt der Wirtschaftshistoriker Bernhard Ruetz im «Blick». Der Schweizer Arbeitsfrieden sei ein Trumpf im internationalen Wettbewerb.