Gewalt an Silvester in Berlin «Wir wurden von Hunderten Jugendlichen mit Böllern beworfen»

uri

3.1.2023

«Wir sind fassungslos!» – Feuerwehrvideo zeigt Böllerbeschuss

«Wir sind fassungslos!» – Feuerwehrvideo zeigt Böllerbeschuss

Nach den Vorfällen in der Silvesternacht, bei denen vor allem in Berlin auch Rettungskräfte von Polizei, Notärzten und Feuerwehr angegriffen worden waren, dauert die Debatte über mögliche Konsequenzen an.

03.01.2023

Die gewalttätigen Angriffe auf deutsche Einsatzkräfte in der Silvesternacht lässt Beamte entsetzt zurück. Die Politik ist alarmiert – und sucht fieberhaft nach den Ursachen und der passenden Antwort.

uri

3.1.2023

In mehreren deutschen Grossstädten, vor allem aber in Berlin, ist es in der Silvesternacht zu beispiellosen Angriffen auf die Polizei und Rettungskräfte gekommen. Gemäss neuesten Zahlen wurden dabei allein in Berlin mehr als 40 Polizistinnen und Polizisten verletzt – 159 Tatverdächtig, vorwiegend jüngere Männer, wurden festgenommen.

Die Feuerwehr dokumentierte in der Hauptstadt nach eigenen Angaben bei mindestens 38 Einsätzen Angriffe und beklagte 15 Verletzte.

Zahlreiche in der Silvesternacht eingesetzte Polizist*innen und Rettungskräfte berichteten von dramatischen Szenen. Der türkischstämmige Berliner Feuerwehrmann Baris Coban etwa sagte: «Dass Löschfahrzeuge an Silvester mit Pyrotechnik beschossen werden, kennen wir schon. Was aber diesmal anders war: Die Attacken wirkten koordiniert.» Auf dem Nachrichtenportal T-Online spricht er von «geplanten Hinterhalten».

Feuerwehrmänner löschen an der Berliner Sonnenallee einen Reisebus, der in der Silvesternacht von Unbekannten angezündet wurde.
Feuerwehrmänner löschen an der Berliner Sonnenallee einen Reisebus, der in der Silvesternacht von Unbekannten angezündet wurde.
Paul Zinken/dpa

Als Coban und seine Kollegen zu einem brennenden Reisebus in der Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln ausgerückt seien, hätten sie plötzlich vor einer brennenden Barrikade auf der Strasse anhalten müssen. «Als wir ausgestiegen sind, wurden wir von Hunderten Jugendlichen gezielt mit Böllern, Steinen und Flaschen beworfen.» Dabei hätten einige mit Schreckschusswaffen auf die Feuerwehrleute geschossen: «Wir waren komplett überfordert.»

Polizeigewerkschaft fordert «schonungslose Aufklärung»

Verletzt worden seien er und seine Kollegen glücklicherweise nicht. Er habe aber «von vielen anderen ähnliche Geschichten gehört». Coban äusserte die Sorge, dass er nun selbst anfangen könnte, bestimmte Leute in eine Schublade zu stecken: «Denn, und das sage ich als Türke: Die meisten Jugendlichen hatten Migrationshintergrund.» Allerdings sei das nur die eine Seite der Geschichte, so der Feuerwehrmann, denn im Falle des brennenden Reisebusses hätten auch junge Leute mit Migrationshintergrund Anwohner*innen aus verrauchten Wohnungen geholt.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft forderte bereits eine schonungslose politische Aufklärung der Geschehnisse – auch zur Herkunft der Täterschaft. Der Chef der Gewerkschaft, Rainer Wendt, sagte zu «Focus Online»: «Bei vielen Einsatzkräften ist der Eindruck vorherrschend, dass Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund bei diesen Ausschreitungen weit überrepräsentiert sind.»

Wenn man verhindern wolle, dass rechte Populisten diesen Eindruck für ihre politische Zwecke nutzten, so Wendt, müssten «die tatsächlichen Feststellungen exakt analysiert und genannt werden».

Nach einer Diagnose müsse der Staat dann gezielt eingreifen, fordert Wendt: «Da werden dann weniger die Polizei und die Justiz gefragt sein, sondern Stadtteilmanagement, aber auch Jugendbehörden, Sozialdienste, Ausländerämter und ähnliche Einrichtungen.»

Bevölkerung von Neukölln wollen «stärkeren Staat»

Auch im migrantisch geprägten Berliner Stadtteil Neukölln wünsche sich die Mehrheit der Menschen «ein härteres Durchgreifen, einen stärkeren Staat», sagte die Integrationsbeauftragte Neuköllns, Güner Balci, zum «Spiegel». Die Gewalt sei hier von einer kleinen Gruppe ausgegangen, die aber starke Deutungsmacht habe. Es seien die «hoffnungslos Abgehängten, platt gesagt: absolute Loser», die für die Krawalle verantwortlich seien.

Konkret seien es dieselben Jugendlichen und teils auch Kinder, die das Jahr über ähnliches Verhalten an den Tag legten und «dem ganzen Kiez das Leben schwer machen», mutmasst Balci. An Silvester werde das dann aber für alle sichtbar.

Polizeibeamte in Berlin stehen hinter explodierendem Feuerwerk.
Polizeibeamte in Berlin stehen hinter explodierendem Feuerwerk.
Bild: dpa

Neukölln sei dabei inzwischen lediglich ein Sinnbild für Gewalt und Respektlosigkeit geworden, die es überall gebe. «Wir haben diese Tendenz in allen Grossstädten, stets in abgehängten Milieus. Es gibt Subkulturen der Gescheiterten, die sich als Gegner des Staates sehen. Ihr kultureller Hintergrund spielt dabei keine Rolle», so Balci.

Auch arabische und türkische Vereine würden ihr mitteilen, dass es nichts bringe, wenn jugendliche Straftäter lediglich dreimal den Schulhof fegen müssten, sagt Balci: «Die verlangen nach Strafen mit Strahlkraft, denn sie leiden ja im Alltag am meisten unter diesen Leuten.»

Mehr ein Problem der Erziehung als der Integration

Ähnlich argumentiert der Neuropsychologe Thomas Elbert. Für ihn liegt das Problem weniger in der Integration als in der Erziehung, wie er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland RND sagte. Aus vielen Untersuchungen wisse man, dass Gewalt stets aus Gewalt entstehe: «Es zielt nur derjenige wirklich darauf ab, andere zu verletzen, der selbst Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren hat.»

Wenn Leute aus Kulturkreisen stammten, in denen Kinder mit massiven Bestrafungen erzogen würden, dann resultiere daraus ein vermehrtes Gewaltpotenzial. Das gelte vor allem bei jungen Männern. Elbert gibt jedoch auch zu bedenken, dass im traditionell deutschen Kulturkreis ebenfalls bei rund 20 Prozent Erfahrungen mit häuslicher Gewalt machen würden.

Der Psychologe glaubt, dass der Ruf nach härteren Strafen nicht allzu viel bringen werde: «Strafandrohung wirkt je weniger, je geringer die Perspektiven sind.» Er hält es für denkbar, dass geforderte Feuerwekverbote die Lage jedoch entschärfen könnten. Werde es schwierig, an Böller zu kommen, könne man auch das «‹Kriegspielen› so nicht mehr durchführen».

Kommunen rechnen mit künftigen Böllerverboten

Die deutschen Kommunalverbände rechnen bereits damit, dass zum kommenden Jahreswechsel mehr Böllerverbotszonen eingerichtet werden. «Bislang haben die Städte, bereits lange vor Corona, gute Erfahrungen mit Feuerwerks-Verbotszonen gemacht», sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

In die Empörung über die Gewalt gegen Polizisten und Feuerwehrleute mischt sich in der Politik zuletzt aber weiterhin auch Ratlosigkeit. «Das ist ein Ausmass an Gewalt, das fassungslos und wütend macht», erklärte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser. Schärfere Gesetze hielt die Ministerin nicht für nötig. Sie verwies auf das 2017 verabschiedete Gesetz zum Schutz von Einsatzkräften, das bis zu fünf Jahre Haft für Attacken auf Polizist*innen, Feuerwehrleute und Sanitäter*innen zulässt.

Bürgerliche Parteien gegen Verbot

Ein Feuerwerksverbot stösst unterdessen bei den bürgerlichen Parteien FDP und CSU weiterhin auf Ablehnung. Es sei «die falsche Forderung nach diesen erschreckenden Bildern», sagte die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg, Mitglied im Innenausschuss, am Dienstag im ARD-«Morgenmagazin». Es könne nicht sein, etwas Traditionelles wie Silvesterfeuerwerk zu verbieten, «nur weil einige sich nicht an Regeln halten».

Aber: Angesichts der Szenen an Silvester müsse über die Dimension dieser Ereignisse diskutiert werden, findet Teuteberg. Es gehe «um eine Inszenierung von Gewalt» und «um eine Verachtung gegenüber den Einsatzkräften und gegenüber dem demokratischen Staat». 

Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) lehnt ein Verbot ab und fordert stattdessen harte Strafen für Menschen, die an Silvester randalieren. «Ein spürbarer Denkzettel und gegebenenfalls auch Freiheitsstrafen sind angebracht», sagte Herrmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Ein generelles Feuerwerksverbot halte ich nicht für zielführend.» Das würde auch diejenigen strafen, die umsichtig und verantwortungsvoll damit umgingen.

Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und DPA.