Canyoning-Unglück«Niemals in Schlucht gehen bei einer solchen Wettervoraussage»
Von Anna Kappeler
13.8.2020
Nach dem Canyoning-Unglück in Vättis SG stellt sich die Frage nach dem Warum. Der Sport sei nicht gefährlich, aber man müsse richtig ausgebildet sein, so ein Outdoor-Experte. Und er sagt, warum Saxetbach als Trauma in die Geschichte des Outdoorsports einging.
Das Unglück in der Parlitobelschlucht in Vättis SG mit laut Polizei wahrscheinlich vier Toten lässt Erinnerungen an eine andere Canyoning-Tragödie wach werden. Vor 21 Jahren verloren 21 Menschen beim Canyoning im Saxetbach ihr Leben. Damals, am 27. Juli 1999, wurde eine Gruppe von 45 Touristen und acht Guides von einer Sturzwelle erfasst. Die Todesopfer waren zwischen 19 und 31 Jahren alt.
Auf den aktuellen Unfall bei Vättis angesprochen, und was ihm dabei als Erstes durch den Kopf ging, sagt Manuel Weibel: «Schade, dass schon wieder so ein Unfall passieren musste.» Weibel ist Vorstandsmitglied der Swiss Outdoor Association SOA und seit über 20 Jahren als Canyoning-Guide unterwegs.
Bei einem tödlichen Canyoning-Unfall denkt auch Weibel sofort wieder an denjenigen im Saxetbach. «Jenes Unglück ging als eine Art Trauma in die Geschichte der Outdoor-Sportarten ein.»
Branche professionalisiert durch Saxetbach-Unglück
Als Folge davon hat sich, so Weibel, die Branche professionalisiert und die Ausbildung sei reguliert worden. Auch die SOA war eine Folge, sie wurde nach dem Unglück gegründet, um die verschiedenen Anbieter zu organisieren. 2014 trat zudem ein Gesetz über Risikoaktivitäten in Kraft. «Seither unterstehen kommerzielle Anbieter einer Bewilligungspflicht. Das finde ich richtig und wichtig.»
«Saxetbach ging als eine Art Trauma in die Geschichte der Outdoor-Sportarten ein.»
Für Weibel auffällig: «Praktisch alle Canyoning-Unfälle, die sich seither ereignet haben, wurden durch Private verursacht.» Der Guide betont, dass «privates Canyoning gänzlich anders ist als das kommerzielle». Canyoning an sich sei nicht extrem oder gefährlich, aber man müsse dafür richtig ausgebildet sein. Und: «Je schwieriger die gewählte Route, desto mehr Wissen und Vorbereitung ist nötig.»
«Nicht in Schlucht bei solcher Wettervoraussage»
Weibel selber war noch nie in der Parlitobelschlucht unterwegs. Er habe jedoch Bilder des dortigen Geländes gesehen und könne sich dieses dadurch relativ gut vorstellen. Mit einer Einschätzung ist er zurückhaltend: «Es ist schwierig, die Geschehnisse von aussen zu beurteilen.»
Für Weibel deutet dennoch einiges darauf hin, «dass sich die Gruppe nicht ausreichend vorbereitet» hat. «Jeder Guide, der auch nur halbwegs ausgebildet ist, wäre nach der gestrigen Wettervoraussage niemals in diese Schlucht hinein», sagt er. Die Wettervoraussage zu checken, sei Voraussetzung vor jeder Tour.
Wie SRF Meteo der Nachrichtenagentur SDA-Keystone sagte, waren zur Zeit des Unglücks lokal heftige Gewitter mit grossen Regenmengen erwartet worden. Südlich von Vättis wurde demnach eine Regenmenge von rund 40 Millimetern verzeichnet. Das Gewitter erreichte die Gefahrenstufe 2 von 3 gemäss europäischen Standards, zudem hatten Wetterdienste davor gewarnt.
«Gruppe zog zu spät am Tag los»
Auch die Tatsache, dass die Gruppe erst gegen 16 Uhr losgezogen war, spricht für Guide Weibel gegen deren Kenntnisse. «Beim Canyoning gilt das gleiche wie in den Bergen: Man startet eine Tour am frühen Morgen, damit man am Mittag fertig ist.» So habe man einen zeitlichen Puffer. Dazu komme, dass sich Gewitter oft erst gegen Nachmittag entladen wüden.
Seine Einschätzung: «Die Gruppe war sich der drohenden Gefahren wohl schlicht nicht bewusst. Sie wussten es nicht besser.»
Die Gruppe spanischer Touristen aus der Region Navarra bestand aus vier Männern und zwei Frauen. Drei Männer wurden tot geborgen, einer wird noch vermisst, wie Polizeisprecher Hanspeter Krüsi am Donnerstagnachmittag an einer Medienkonferenz in Vättis ausführte.