Tonkin-Zwischenfall Fake News vor 55 Jahren oder: Als die USA einen Kriegsgrund erfinden

Von Philipp Dahm

3.8.2019

Wer in den Krieg ziehen will und im Volk Rückendeckung dafür sucht, braucht einen guten Grund für den Waffengang. Oder man ist – so wie die USA 1964 – gut im Lügen.

1964 – in Vietnam tobt seit neun Jahren ein Bürgerkrieg, und die USA unterstützen den Süden in seinem Kampf gegen den kommunistischen Norden. Anfang des Jahres hat Washington gar eine hochgeheime Spezialeinheit aufgestellt, um das Blatt zu wenden: das «Military Assistance Command, Vietnam», das aus Angehörigen der Navy Seals, der Special Forces, der Marines und aus CIA-Leuten besteht.

Es wird zurückgeschossen

Die Task Force führt in Vietnam verdeckte Operationen durch, die durch den streng geheimen «Operational Plan 34A» abgedeckt sind. Zu ihrer Aufgabe gehört auch die elektronische Überwachung – das war auch der Auftrag der USS Maddox, als der Zerstörer am 2. August in den Golf von Tonkin einfährt. Die Maddox soll herausfinden, welche Schäden ein Angriff der mit ihnen verbündeten Südvietnamesen auf zwei nordvietnamesische Inseln angerichtet hat.

Der Golf von Tonkin.
Der Golf von Tonkin.
Bild: Google Earth

Washington behauptet noch heute, die Maddox sei ausserhalb der Zwölf-Meilen-Zone gefahren, aber Historiker bezweifeln dieses Darstellung. Am Mittag des 2. August versuchen drei Schnellboote der Nordvietnamesen, den Zerstörer einzukreisen und schiessen angeblich auch – Torpedos verfehlen demnach die Maddox, an der später nur wenige MG-Einschusslöcher gefunden werden können.

Das US-Kriegsschiff erwidert das Feuer, lässt 280 Granaten auf den Gegner niederregnen, schiesst ein Schnellboot manövrierunfähig und ruft Luftunterstützung vom Flugzeugträger USS Ticondera. Vier Corsair-Bomber steigen auf und versenken nach eigener Angaben eines der verbliebenen Boote und beschädigen das zweite schwer.

Es fehlte noch ein Kriegsgrund

Lyndon B. Johnson, der im November 1963 das Amt von John F. Kennedy übernommen hat, kommt der Zwischenfall im Wahljahr 1964 gerade recht. Denn schon im Vorjahr hat das Pentagon beschlossen, in Vietnam einzugreifen – es fehlt nur noch ein Grund, der den Waffengang im Repräsentantenhaus legitimiert. Washington lehnt dann auch die Bitte von Maddox-Captain John Herrick ab, das Gebiet verlassen zu dürfen. Ihr wird stattdessen die USS Turner Joy zur Seite gestellt.

Mit Genugtuung dürften Johnson und sein Verteidigungsminister Robert McNamara festgestellt haben, dass die US-Presse den Vorfall vom 2. August aufgreift – und die Redaktionen liefern der Öffentlichkeit am 4. August den Nachschub, der für einen Stimmungswechsel im Land nötig ist. Sie geben an jenem Tag vor, die Maddox und die Turner Joy seien von nicht identifizierten Booten erneut mit Torpedos beschossen worden – wahrscheinlich stecke wieder Nordvietnam hinter der Attacke.

Die Tonkin-Resolution bekam im Senat nur zwei gegenstimmen, im Repräsentantenhaus gab es gar keine. Die Resoution kam einer Kriegserklärung gleich.

Wenig Stunden später fliegen US-Jets Vergeltungsangriffe auf nordvietnamesische Stellungen, und spätestens mit der Tonkin-Resolution, die im Repräsentantenhaus mit 416 zu 0 Stimmen angenommen wird, hat Präsident Johnson alle Freiheiten, die er im Vietnamkrieg braucht. Dass Captain Herrick selbst an einem Angriff zweifelt und das auch zeitnah nach Washington funkt, ändert am Kurs des Weissen Hauses nichts – nicht zuletzt, weil Verteidigungsminister McNamara den Präsidenten darüber nicht informiert.

Nichts stimmte

Doch auch der Präsident äussert privat seine Zweifel an der offiziellen Tonkin-Version und glaubt, «unsere Navy hat auf Wale geschossen». Ein Whistleblower bringt 1967 dann erstmals unter Volk, dass die Legitimation erlogen sein soll. Die «Pentagon Papers» erhärten den Verdacht 1971, und 1995 fragt Robert McNamara in Vietnam nach, was damals wirklich los war. Die Antwort lautete: nichts.

Ein Werbefilm für die A-7 Corsair von 1975.

2005 klärten freigegebene NSA-Dokumente ein für allemal, dass der Vorfall vom 4. August, der ein Meilenstein auf dem Weg Washingtons in den Vietnamkrieg war, von vorn bis hinten erfunden wurde. Eine bittere Wahrheit angesichts der unzähligen Toten, die der Konflikt zwischen 1955 und 1975 fordert – die Schätzungen reichen von 1,3 bis 4,2 Millionen Opfern.

Die Tet-Offensive:

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