Juventus lässt am Tag nach dem Champions-League-Aus gegen Lyon eine Bombe platzen. Die Entlassung von Trainer Maurizio Sarri war absehbar. Dass aber Andrea Pirlo, der nie zuvor ein Team gecoacht hatte, Sarris Nachfolger wird, überraschte doch sehr. Pirlo und Juve – kommt das gut? «Bluewin» sucht nach Argumenten, die dafür und dagegen sprechen.
Es ist noch nicht lange her, da hatte Juventus Turin einen ganz grossen Namen auf dem Wunschzettel: Jener von Pep Guardiola. Das Gerücht hielt sich so wacker, dass der ManCity-Coach mehrmals in Medienkonferenzen zu einem möglichen Engagement bei den Turinern Stellung beziehen musste.
Mit Guardiola hatte es im letzten Sommer nicht geklappt. Um mehr Spielkultur ins eigene Spiel zu bringen, holte Juve trotzdem einen neuen Mann: Maurizio Sarri beerbte Massimiliano Allegri, der zwar in seinen fünf Jahren in Turin immer Meister wurde und den italienischen Rekordchampion auch zweimal in den Champions-League-Final führte, aber Juve den langersehnten Titel in der Königsklasse nicht schenken konnte.
Genauso wenig wie alle seine Vorgänger seit 1996. Ancelotti, Capello, Deschamps, Ranieri oder Conte – die Namen könnten kaum grösser sein, doch keiner von ihnen konnte Juventus den gewünschten Erfolg auf internationalem Niveau bringen.
Vielleicht gab es deshalb jetzt ein Umdenken im Verein. Statt erneut Jagd auf einen Guardiola, Klopp oder Mourinho zu machen, überraschen die Bianconeri am Samstag mit der Meldung: Andrea Pirlo wird neuer Cheftrainer bei Juventus. Pirlo, der Maestro, der zwischen 2011 und 2015 selbst bei Juve spielte – aber noch überhaupt keine Erfahrungen als Trainer hat. Erst am 30. Juli war der 41-Jährige bei Juve als neuer Trainer der U23-Mannschaft vorgestellt worden. Neun Tage später – ohne auch nur eine einzige Trainingseinheit der Junioren geleitet zu haben – folgt bereits die Beförderung zum Chefcoach der Profis. Pirlo erhält einen Vertrag bis 2022.
Zidane, Lampard und Solskjaer machen es vor
Juve springt damit auf einen Zug, auf welchem zig europäische Top-Klubs seit einiger Zeit fahren: Fussball-Helden der späten 90er- und Nuller-Jahre werden zu den starken Männern in ihren Herzensvereinen. Wie Zinédine Zidane bei Real Madrid, Ole Gunnar Solskjaer bei Manchester United, Frank Lampard bei Chelsea.
Diese drei Beispiele zeigen, dass das durchaus funktionieren kann. Zidane übernahm die Königlichen Anfang 2016 in einer schwierigen Phase – und führte den Klub dann dreimal in Folge zum Champions-League-Titel. Nach seinem Rücktritt 2018 sprang er keine zwölf Monate später wieder ein und holte mit Real nun auch seinen zweiten Ligatitel. Solskjaer und Lampard erhielten vor ihren Aufgaben in Manchester und London ebenfalls wenig Kredit, sind aktuell bei ihren Klubs aber auch nicht mehr wegzudenken.
Nun soll es auch Pirlo in Turin richten. Was sicher für eine gute Zukunft spricht, ist, dass der Weltmeister von 2006 die Leute, den Klub und die Infrastruktur bereits kennt. Mit den drei Routiniers Gigi Buffon, Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini hat Pirlo sogar noch zusammengespielt.
Fehlt Pirlo die Autorität?
Genau das könnte aber auch zu einem Nachteil werden. Denn Pirlo, der seine Karriere 2018 bei New York City beendet hatte, war auf dem Platz nie der Lautsprecher, sondern der Künstler. Für die lauten Ansagen waren stets andere da – etwa Buffon, Chiellini oder Bonucci. Seinen alten Kumpels muss Pirlo nun Anweisungen geben. Oder sie sogar auf die Bank setzen.
Mit den Worten «muss ich dich jetzt Mister nennen?», hiess Buffon seinen ehemaligen Teamkollegen und neuen Trainer willkommen. Gewiss nicht ganz ernstgemeinte Worte, aber das lässt schon erahnen, dass sich ein Buffon nicht wirklich vorstellen kann, nun Anweisungen von Pirlo entgegenzunehmen.
Der Respekt vor dem grossen Andrea Pirlo wird zweifellos bei jedem Spieler vorhanden sein. Doch besitzt der frühere Spielmacher auch genügend Autorität, um Superstars wie Cristiano Ronaldo oder Paulo Dybala zu führen? Da dürften doch Zweifel aufkommen. Zumal Pirlo anders als Ronaldo in seiner Aktivkarriere nicht unbedingt als Trainingsweltmeister galt, sondern auch gerne mal ein Glas Wein genoss.
Aus sich heraus kam der Maestro dann auch bei Meisterfeiern. Im Netz existieren mehrere Videos, auf denen sich Pirlo sichtlich betrunken der Öffentlichkeit präsentierte. Bestimmt nicht der beste Weg, vor allem bei den jüngeren Profis Autorität zu erlangen.
Man darf gespannt sein, wie sich Andrea Pirlo als Trainer präsentieren wird. Vielleicht wird der ruhige Künstler an der Seitenlinie ja doch noch zum Sprachrohr, vielleicht braucht er das aber auch gar nicht zu sein.