England Englisches Leiden bis zum «Hey Jude»

sda

2.7.2024 - 16:32

Im ganzen Land versammeln sich die englischen Fussballfans in den Pubs und Biergärten vor den Bildschirmen - und leiden und feiern gleichermassen
Im ganzen Land versammeln sich die englischen Fussballfans in den Pubs und Biergärten vor den Bildschirmen - und leiden und feiern gleichermassen
Keystone

Die Fans in England leiden mit den «Three Lions» mit. Trinkfest, solidarisch und die kleinen Erfolgserlebnisse feiernd. Man ist schliesslich abgehärtet.

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Die bereit liegenden Decken werden nicht gebraucht. «Eigentlich sollte man die ja im Juni gar nicht bereit machen müssen», steht auf dem Schild neben dem Korb mit dem wärmenden Textil. «Aber Sie wissen ja, das ist England.» Das ist England, das passt auch treffend für das Leiden mit dem eigenen Fussball-Nationalteam.

Warm ists zwar auch am Sonntagabend im Biergarten des «Coat & Badge» Pubs nicht wirklich. Eine Decke hätten sich die vielen Fans ab und zu schon gewünscht, um sich darunter zu verkriechen – nicht wegen der Temperaturen, sondern wegen des Geschehens auf den vier grossen TV-Schirmen.

Kurz nach 19 Uhr ist die Welt aber wieder in Ordnung. «Hey Jude», dröhnt der Beatles-Klassiker aus einer Hundertschaft Kehlen durch den im Südwesten Londons liegenden Stadtteil Putney. Der Grossteil der Fans war wohl noch nicht geboren, als John Lennon starb. Egal, für sie steht «Hey Jude» sowieso für Jude Bellingham, den Retter ihrer Euro-Träume. Zwar steht noch die Verlängerung an, doch die, da ist man sich sicher, wird man auch gewinnen. Gedacht, getan – und dann nochmal eine Runde «Hey Jude».

Dezente Flüche und fehlendes Verständnis

Auch wenn seit 1966 jede Endrunde mit gebrochenen Herzen endete, die Anhänger der «Three Lions» sind geradezu Mitleid erregend optimistisch. Und leidensfähig. 94 Minuten müssen sie zittern mit ihrer Mannschaft, die hochkarätig besetzt ist und so mutlos und uninspiriert spielt. «Outside» – nach aussen – schallt es flehend, wenn wieder einer am Flügel frei steht, aber nicht angespielt wird.

Pfiffe gibt es keine, wie zuweilen im Stadion. Nur ein paar dezente Flüche und verständnisloses Gemurmel. Oder ein freudiges «Foden», als dieser in aussichtsreicher Position zu einem Freistoss anläuft – und dann wie eigentlich immer an dieser EM so gar nichts zustande bringt. Dennoch, als der Star von Manchester City ausgewechselt wird, geht ein «Oh no» durchs Garten-Rechteck.

Man versteht den Nationaltrainer Gareth Southgate ja sowieso nicht. Warum wechselt er erst so spät, wenn doch so nichts zusammenpasst auf dem Feld? Warum schafft er es nicht, für Foden, der in der Meisterschaft eine überragende Saison spielte, die richtige Position zu finden, auf der er sich entfalten kann? Die Shirts mit dem Emblem mit den drei Löwen gibt es in einer erstaunlicher Vielfalt: weiss natürlich, aber auch grau, rot, sogar blau. Doch egal, welche Farbe einer trägt, die Meinung ist unisono die gleiche: Man ist enttäuscht von der eigenen Mannschaft, am Support ändert das aber nichts.

Schweizer noch kein Thema

Den grössten Applaus gibts, bis zum erlösenden Fallrückzieher Bellinghams, für die Einwechslung von Cole Palmer. Der Jungstar von Chelsea – nur zwei U-Bahn-Stationen von Putney entfernt – geniesst hier grosse Sympathien. Etwas mehr von seiner Frische würde man sich sehnlichst wünschen. Am Ende ist das, zumindest für einen Abend, egal.

Der nächste Gegner Schweiz ist da kein Thema. Vor dem Spiel gab es lobende Worte, vor allem für Granit Xhaka, Manuel Akanji, Fabian Schär und Xherdan Shaqiri, die alle in der Premier League engagiert sind oder dort ihre Spuren hinterlassen haben. Im Siegesjubel mag man sich damit nicht beschäftigen. Man hat ja Jude Bellingham und Harry Kane, was soll da schon schief gehen. Wobei: «Wenn wir schon mit den Slowaken so grosse Mühe haben...», wirft einer leise ein und redet nicht weiter.

Man soll die Feste schliesslich feiern, wie sie fallen. Als England-Fan weiss man nur zu gut, dass die Ernüchterung früher oder später sowieso kommt.