Nahrungsmittelallergien Allergenen auf der Spur: Auch der Darm ist zunehmend im Fokus

Irena Güttel, dpa

23.6.2020

Bei Umfragen geben laut «aha! Allergiezentrum Schweiz» 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung an, auf Nahrungsmittel allergisch zu sein. Nachweisbar seien jedoch nur 2 bis 6 Prozent. 
Bei Umfragen geben laut «aha! Allergiezentrum Schweiz» 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung an, auf Nahrungsmittel allergisch zu sein. Nachweisbar seien jedoch nur 2 bis 6 Prozent. 
Source: Daniel Karmann

Hühnerei, Kuhmilch, Fisch, Nüsse und Früchte – viele Lebensmittel können Allergien auslösen. Die Auslöser von Lebensmittelallergien zu identifizieren, kann knifflig sein.

Einmal war es eine halbes haselnussgefülltes Kaubonbon, ein anderes Mal der Biss in einen Lebkuchen. Danach ging es Benjamin plötzlich richtig schlecht.

«Er ist kreidebleich geworden, war total schlapp und hatte rote Flecken am Körper», erzählt seine Mutter. Als es das dritte Mal passierte, ging sie mit dem Kleinkind zum Kinderarzt. Eine Blutuntersuchung brachte Gewissheit: Benjamin hat eine Haselnussallergie.

Nahrungsmittelallergien oft schwer nachweisbar

Wie dem Dreijährigen geht es vielen Menschen. Denn Allergien gegen Lebensmittel werden häufiger. «Das ist inzwischen recht gut belegt», sagt Katja Nemat vom Ärzteverband Deutscher Allergologen. «Die Nahrungsmittelallergien haben seit Anfang der 2000er-Jahre zugenommen.»

Bei Umfragen geben laut «aha! Allergiezentrum Schweiz» 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung an, auf Nahrungsmittel allergisch zu sein. Nachweisbar seien es jedoch nur zwei bis sechs Prozent. Kleinkinder entwickeln am häufigsten Allergien auf Nahrungsmittel, vertragen diese mit zunehmendem Alter häufig wieder. Nicht immer sind die Beschwerden dabei so eindeutig wie bei Benjamin.

Die Ernährungsmedizinerin Yurdagül Zopf behandelt am Erlanger Universitätsklinikum regelmässig Patientinnen und Patienten, bei denen die herkömmlichen Allergietests unauffällig sind. Das liege zum einen daran, dass die Tests nicht zu 100 Prozent zuverlässig seien.

Zum anderen gebe es Nahrungsmittelallergien, die nicht immer durch serologische Tests – also den Nachweis von Antikörpern im Blut – oder auf der Haut feststellbar seien. «Die diagnostischen Möglichkeiten sind häufig noch nicht ausreichend, um alle Nahrungsmittelallergien nachzuweisen.»

Auch der Darm spielt eine wichtige Rolle

Ein Beispiel ist der Darm. «Der Darm ist ein riesiges Immunorgan», sagt Zopf. «Da müssen wir noch verstehen, welche Bedeutung er bei der Entstehung von Allergien und den allergischen Reaktionen hat.» Dass er eine wichtige Rolle spiele, sei erst in den letzten Jahren in den Fokus gerückt.

Das Universitätsklinikum nutzt ein noch wenig verbreitetes Verfahren, um dies genauer zu untersuchen. Bei der speziellen Darmspiegelung können die Mediziner die Essenz von Nüssen, Soja oder anderen Allergenen auf die Darmschleimhaut sprühen und beobachten, wie diese darauf reagiert.

Welche Ursachen gibt es?

Doch wie entstehen Allergien auf Lebensmittel wie Nüsse, Getreide, Kuhmilch, Hühnerei oder Fisch überhaupt? Vollständig erforscht ist das noch nicht. «Was bestimmt eine Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie wir uns ernähren», sagt die Allergologin Nemat. So stünden stark industriell verarbeitete Lebensmittel im Verdacht, Allergien auszulösen. «Das ist aber sicherlich nicht der einzige Faktor. Es ist ein Zusammenspiel von Ursachen.»

Medikamente können nach Angaben von Zopf die Entstehung von allergischen Reaktionen begünstigen. Säurehemmende Magenmedikamente können zum Beispiel dazu führen, dass Proteine nicht vollständig verdaut werden und grössere Eiweissfragmente in den Darm gelangen. «Das kann bei Überempfindlichkeiten oder genetischer Disposition zu Unverträglichkeitsreaktionen führen», sagt sie.

Fest steht: «Niemand kommt mit einer Allergie auf die Welt», sagt Nemat. Bei einer Allergie identifiziert das Immunsystem die Proteine von beispielsweise Lebensmitteln als Feind und reagiert heftig auf diese. Dafür reichen auch schon kleinste Mengen. Dass manche Eltern ihren Babys ganz bewusst keine Lebensmittel wie Nüsse, Ei oder Milch geben, die Allergene enthalten, hält Nemat für keine gute Idee. «Das hat leider den gegenteiligen Effekt. Das Immunsystem muss gerade im Babyalter Toleranz erlernen.»

Unverträglichkeit kann wieder verschwinden

Bei vielen Kindern verschwindet die Lebensmittelallergie mit der Zeit. «Das verwächst sich, weil das Immunsystem ausgereift ist und gelernt hat, damit umzugehen», sagt Zopf. Eine Kuhmilchallergie geht nach Angaben von Nemat bei allen Kindern zurück. Bei Hühnereiweiss reagiere die überwiegende Mehrheit nicht mehr allergisch, bei Erdnüssen sei es immerhin jedes fünfte Kind. Erwachsene haben dagegen schlechte Karten: Bei ihnen ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Lebensmittelallergie wieder weggeht.

Auch die Eltern von Benjamin hoffen, dass er Haselnüsse in Zukunft wieder verträgt. «Er macht es eigentlich ganz toll», sagt seine Mutter. «Er ist wahnsinnig vorsichtig. Wenn jemand ihm etwas zu Essen anbietet, fragt er mich immer erst, ob er das darf.» Vor ein paar Monaten ist es im Kindergarten dann doch passiert: Benjamin hatte sich bei der Adventsfeier einen Zimtstern vom Plätzchenteller geangelt. Danach übergab er sich und bekam Ausschlag. Es ging ihm erst besser, nachdem er Cortison bekommen hatte.

Die Lebensmittel meiden, auf die man allergisch reagiert und im Notfall die Symptome mit Medikamenten behandeln – mehr können Betroffene zurzeit nicht tun. In den USA ist nach Angaben von Nemat seit vergangenem Herbst eine orale Immuntherapie zugelassen, bei der Allergiker Erdnussprotein-Pulver schlucken. In den nächsten Monaten werde dort voraussichtlich auch ein Pflaster getestet, das kleinste Mengen Erdnussprotein an die Haut abgibt.

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