Auf dem Weg zur Reform?Was der Rücktritt der Palästinenser-Regierung bedeuten könnte
dpa/twei
29.2.2024 - 22:49
Wer regiert nach dem Krieg in Gaza? Die USA wollen, dass es die palästinensische Autonomiebehörde ist – im Vorfeld einer etwaigen Zweistaaten-Lösung. Aber dazu muss sie sich Washington zufolge grundlegend reformieren. Hat sie jetzt damit begonnen?
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29.02.2024, 22:49
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Aktuell herrscht im Nahen Osten noch Krieg. Doch die Frage, wie eine palästinensische Regierung in Friedenszeiten aussehen könnte, wird schon jetzt diskutiert.
Der Rücktritt des Ministerpräsident der palästinensischen Autonomiegebiete, Mohammed Schtaje, hat den Überlegungen neue Dynamik verschafft.
Auch Präsident Mahmud Abbas ist längst nicht mehr unumstritten. Umfragen zufolge fordert eine Mehrheit der Palästinenser auch seinen Rücktritt.
Der Ministerpräsident der palästinensischen Autonomiegebiete, Mohammed Schtaje, hat am Montag den Rücktritt seiner Regierung bekanntgegeben. Das gilt als ein erster Schritt in einem Reformprozess innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), auf den die USA dringen – als Teil ihres wiederbelebten ehrgeizigen Planes, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen.
Aber es wird wenig helfen, die Beziehungen zu Israel zu verbessern und das Legitimitätsproblem zu beseitigen, mit dem es die Behörde seit Langem im eigenen Volk zu tun hat. Beides sind grosse Hürden für eine Umsetzung des US-Konzeptes, dem zufolge die Autonomiebehörde, die Teile des israelisch besetzten Westjordanlandes verwaltet, nach einer inneren Reform den Gazastreifen regieren soll, wenn der Krieg dort vorbei ist.
Als Endziel schwebt den USA dann eine palästinensische Eigenstaatlichkeit vor. Voraussetzung ist erst einmal, dass der bereits fast fünf Monate dauernde Krieg mit einem Sieg Israels über die radikal-islamische Hamas endet.
Hier ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen bei den Palästinensern und was sie für den Krieg zwischen Israel und Hamas bedeuten.
Was ist die palästinensische Autonomiebehörde?
Die PA wurde in den frühen 1990er-Jahren im Zuge von Friedenszwischenabkommen geschaffen, die Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO – damals geführt von Jassir Arafat – schlossen. Der Behörde wurde eine begrenzte Autonomie in Teilen des Westjordanlandes und im Gazastreifen gewährt, im Vorfeld einer möglichen Dauerlösung.
Die Palästinenser hofften, dabei volle Eigenstaatlichkeit in beiden Territorien sowie Ost-Jerusalem zu erreichen. Das sind Gebiete, die Israel im Nahost-Krieg von 1967 eingenommen hatte. Aber die beiden Seiten waren unfähig, ein endgültiges Abkommen zu erreichen.
Nach Arafats Tod wurde Mahmud Abbas 2005 gewählter Präsident der Autonomiebehörde. Im Jahr darauf gelang der militant-islamistischen Hamas ein Erdrutschsieg bei Parlamentswahlen. Es entstand ein Machtkampf zwischen ihr und der von Abbas geführten säkularen Fatah-Bewegung, der nach einer brüchigen Einheitsregierung der beiden Gruppen im Sommer 2007 überkochte.
Die Hamas riss nach einer Woche Strassenschlachten die Herrschaft in Gaza an sich, was Abbas' Zuständigkeit praktisch auf Teile des israelisch besetzten Westjordanlandes begrenzte.
Abbas erkennt Israel an, ist gegen bewaffneten Kampf und einer Zweistaaten-Lösung verpflichtet. Seine Sicherheitskräfte haben mit dem israelischen Militär beim Vorgehen gegen Hamas und anderen bewaffneten Gruppen zusammengearbeitet und seine Regierung hat mit Israel kooperiert, um Erleichterungen in zivilen Angelegenheiten wie Arbeitsgenehmigungen zu erreichen.
Was bedeutet der Rücktritt von Ministerpräsident Schtaje?
Schtaje sagte bei der Bekanntgabe, dass die «neue Realität im Gazastreifen» neue Regelungen nötig mache. Abbas nahm seinen Rücktritt an, und es wird erwartet, dass er sich für den Vorsitzenden des palästinensischen Investmentfonds, Mohammed Mustafa, als neuen Ministerpräsidenten entscheidet.
Der in den USA ausgebildete Volkswirtschaftler ist politisch unabhängig und anders als Schtaje kein Fatah-Loyalist. Die USA, Israel und andere Länder würden seine Berufung wohl begrüssen.
Mustafa hat keine eigene politische Basis, und der 88-jährige Abbas hätte weiter das letzte Wort in allen grösseren politischen Fragen. Dennoch würde der Wechsel zu Mustafa das Bild einer reformierten, professionellen PA vermitteln, die Gaza regieren könnte – was wichtig für die USA ist.
Was halten die Palästinenser von der Autonomiebehörde?
Abbas' Popularität ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen, Umfragen zeigen durchweg, dass eine grosse Mehrheit der Palästinenser seinen Rücktritt wünscht. Die Koordinierung der PA mit Israel in Sachen Sicherheit stösst verbreitet auf scharfe Ablehnung, und viele sehen in der Behörde eine Art Erfüllungsgehilfen der israelischen Besatzung.
Sowohl die PA als auch Hamas sind in den von ihnen kontrollierten Territorien gegen Andersdenkende vorgegangen, haben gewaltsam Proteste unterdrückt, Kritiker inhaftiert und gefoltert. Abbas' Mandat lief 2009 aus, aber er hat sich geweigert, Wahlen abzuhalten, wobei er auf israelische Restriktionen als Grund nennt.
Die Hamas, deren Popularität während des derzeitigen Konflikts und früheren Eskalationen der Gewalt stark gestiegen ist, würde wahrscheinlich in einer freien Wahl gut abschneiden. Der populärste Palästinenser-Führer ist jedoch der charismatische Marwan Barguti, der 2004 im Zusammenhang mit tödlichen Terroranschlägen zu fünf Mal Lebenslänglich verurteilt wurde und seitdem in einem israelischen Gefängnis sitzt, aber weiter Einfluss in der Fatah-Bewegung hat.
Hamas hat alle palästinensischen Gruppen aufgerufen, eine Übergangsregierung zu bilden, um den Weg zu Wahlen vorzubereiten. Aber Israel, die USA und andere westliche Länder würden wahrscheinlich jedes palästinensische Organ boykottieren, das Hamas einschliesst.
Wie steht Israel zur Palästinenserbehörde?
Israel zieht die PA der Hamas vor. Aber auch wenn sie in Sicherheitsangelegenheiten zusammenarbeiten, lastet Israel der Autonomiebehörde Anstachelung zum Terrorismus an, und die PA wirft Israel Völkermord und Apartheid vor.
Israels Kritik bezieht sich weitgehend auf die finanzielle Hilfen der Behörde für Familien von Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen sitzen oder von israelischen Sicherheitskräften getötet worden sind, darunter auch Militante, die Israelis getötet haben. Israel wertet das als Anreiz für Terrorismus. Die PA spricht von Sozialleistungen für Opfer der Besatzung.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will nicht, dass die PA in einem künftigen Nachkriegs-Gaza eine Rolle spielt. Er hat angekündigt, dass Israel eine Sicherheitskontrolle mit offenem Ende in dem Gebiet ausüben wird, während örtliche Palästinenser-Führer zivile Verwaltungsaufgaben übernehmen. Netanjahus Regierung lehnt einen eigenen Palästinenser-Staat ab.