Putin lässt Cherson räumen «Das könnte auf einen Nuklearschlag hindeuten»

Von Andreas Fischer

19.10.2022

Einwohner von Cherson sollen Stadt verlassen

Einwohner von Cherson sollen Stadt verlassen

Russland bereitet sich offenbar auf einen ukrainischen Grossangriff in der Region Cherson vor und ruft die Bevölkerung auf, sich in Sicherheit zu bringen. Rund 50'000 Menschen sollten an das Ufer des Flusses Dnipro oder nach Russland gebracht werden.

19.10.2022

Wladimir Putin verhängt in den von Russland völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebieten das Kriegsrecht. Den Schritt stuft Russland-Kenner Ulrich Schmid als «besorgniserregend» ein.

Von Andreas Fischer

19.10.2022

Acht Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin in mehreren kürzlich annektierten Gebieten im Nachbarland den Kriegszustand verhängt. Das Kriegsrecht soll bereits ab morgen Donnerstag in den ostukrainischen Gebieten Luhansk und Donezk sowie in Cherson und Saporischschja im Süden gelten.

Damit einher gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen. So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur. Es werden Checkpoints eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, wie der russische Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow der Nachrichtenagentur dpa erklärt.

Möglich seien zudem Festnahmen bis zu 30 Tage, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländern sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland. Auch die Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben sei denkbar.

Ukraine rüstet sich für Schlacht um Cherson

Die Verhängung des Kriegsrechts begründete Putin mit der Ablehnung Kiews, die Scheinreferenden über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. «Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben», behauptete der Kreml-Herrscher. Nach Putins Darstellung sind jegliche Rückeroberungsversuche der Ukraine nun Angriffe auf russisches Staatsgebiet.

Den Zeitpunkt, das Kriegsrecht zu verhängen, dürfte Putin nicht von ungefähr gewählt haben. In der Region Cherson mehrten sich die Anzeichen, dass die Ukraine mit einer Grossoffensive die von Russland besetzte Gebietshauptstadt befreien will.

Die Befreiung Chersons durch die Ukraine wäre für Putin ein «sehr schmerzhafter Rückschlag», erläutert Russland-Experte Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen auf Anfrage von blue News. «Cherson ist die einzige ukrainische Gebietshauptstadt, die nach dem Beginn des Kriegs erobert werden konnte. Durch die Annexion hat Putin deutlich gemacht, dass er diese Gebiete um jeden Preis erobern und halten will.»

Plant Putin einen Atomwaffeneinsatz?

Für Schmid sind die aktuellen Entwicklungen besorgniserregend. «Putin hat sein ‹Whatever it takes› formuliert. Die Gebiete westlich des Dnipro sind schwierig zu halten, die Bevölkerung im russisch besetzten Cherson wurde zur Ausreise aufgefordert.» Das, so Schmid, könne positiv oder negativ gedeutet werden: «Entweder ist Russland bereit, sich aus diesen Gebieten zurückzuziehen, oder es macht das Gebiet frei für eine Entscheidungsschlacht.»

Bemerkenswert findet Schmid in dem Zusammenhang auch den TV-Auftritt des russischen Oberbefehlshabers in der Ukraine. Dass sich ein russischer General erstmals öffentlich zum Krieg äussert, sei ungewöhnlich.

«Sergej Surowikin fühlt sich offensichtlich unwohl vor der Kamera und liest einen vorbereiteten Text ab», analysiert der Russland-Kenner. «Am meisten beunruhigt seine Aussage, das Fällen von ‹sehr schwierigen Entscheidungen› sei nicht ausgeschlossen.»

Viele Experten hatten diesen Satz als mögliche Ankündigung eines Rückzuges der russischen Truppen interpretiert. «Vor dem Hintergrund von Putins Atomwaffendrohung könnte das auf einen begrenzten Nuklearschlag in Cherson hindeuten», bringt Schmid ein Worst-Case-Szenario ins Spiel.

Wladimir Putin hat über die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete in der Ukraine das russische Kriegsrecht verhängt.
Wladimir Putin hat über die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete in der Ukraine das russische Kriegsrecht verhängt.
Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa