Atomare Bedrohung Was passiert, wenn Putin den roten Knopf drückt?

Von Andreas Fischer

26.2.2022

Putin erklärt der Ukraine den Krieg

Putin erklärt der Ukraine den Krieg

STORY: «Die Volksrepublik Donbass hat Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäss Artikel 51, Teil 7 der Charta der Vereinten Nationen, mit Zustimmung des Russischen Staatsrates und in Übereinstimmung mit den Freundschafts- und Beistandsverträgen mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk, die vom russischen Parlament am 22. Februar ratifiziert wurden, beschlossen, eine besondere Militäroperation durchzuführen. Sie dient dem Schutz der Menschen, die seit acht Jahren vom Kiewer Regime drangsaliert und einem Völkermord ausgesetzt werden. Zu diesem Zweck werden wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen und diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen an der Zivilbevölkerung, einschliesslich russischer Bürger, begangen haben. Was das Militär betrifft, so ist das moderne Russland selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Verlust eines Grossteils seiner Fähigkeiten eine der stärksten Atommächte der Welt. Ausserdem hat es den Vorteil, dass es über die modernsten Waffen verfügt. Niemand sollte daran zweifeln, dass ein direkter Angriff auf unser Land zu einer Niederlage und schrecklichen Konsequenzen für jeden potenziellen Angreifer führen wird.»

24.02.2022

Im Zuge der Invasion der Ukraine droht Russlands Präsident Wladimir Putin unverhohlen mit Atomwaffen. Muss man nun wirklich Angst vor einem Dritten Weltkrieg haben?

Von Andreas Fischer

26.2.2022

Der russische Präsident Wladimir Putin hat in einer Rede an seine Landsleute am Donnerstag den Westen vor «nie gesehenen Konsequenzen» im Fall einer Einmischung in den Ukraine-Krieg gewarnt. Beobachter gehen davon aus, dass Putin damit den Einsatz von Atomwaffen gemeint hat, ohne dies explizit auszusprechen.

Diese unverhohlene Drohung musste die Politik erst einmal sacken lassen. Fachleute waren hingegen wenig überrascht. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu Putins nuklearem Muskelspiel.

Wieso droht Putin überhaupt mit Atomwaffen?

Was Putin mache, folge einem strategischen Drehbuch, über das seit vielen Jahren in Expertenkreisen diskutiert werde, erklärt Sicherheitsexperte Oliver Thränert vom Center for Security Policy der ETH Zürich auf Nachfrage von blue News. «Es gibt viele Militärplaner bei allen Atommächten, die sich täglich mit der Frage beschäftigen, wie man einen Krieg führen und beenden kann mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das wollte in den vergangenen 30 Jahren nur kaum jemand wahrhaben.»

Aus ukrainischer Perspektive sei Putins Drohung umso «ironischer», weil das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst über Atomwaffen verfügte. «Im Budapester Memorandum von 1994 haben die USA, Grossbritannien und Russland der Ukraine im Ausgleich für die Abgabe der Atomwaffen den Schutz ihrer territorialen Souveränität zugesichert.» Der letzte Atomsprengkopf aus der Ukraine wurde 2001 in Russland vernichtet.

Kommt es jetzt wirklich zum Atomkrieg?

Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri rechnet nicht damit. «Ich glaube nicht, dass ein Atomkrieg eine wahrscheinliche Folge dieser Krise ist», sagte Sipri-Direktor Dan Smith der Deutschen Presse-Agentur in Skandinavien. «Wenn Atomwaffen existieren, dann gibt es aber leider natürlich immer diese kleine Möglichkeit. Und das wäre katastrophal.»

Thränert hingegen glaubt, dass es der russische Präsident «bitterernst» meint. «Deswegen hat Putin kurz vor Beginn der Invasion in die Ukraine unter seiner persönlichen Beteiligung ein grosses Manöver mit seinen strategischen Atomwaffenstreitkräften durchgeführt.» Dies sei ein klares Signal gewesen, dass eine nukleare Eskalation nicht ausgeschlossen werden kann, wenn sich der Westen nicht raushalte.

«Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben», drohte der russische Kriegsherr Wladimir Putin am 24. Februar 2022.
«Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben», drohte der russische Kriegsherr Wladimir Putin am 24. Februar 2022.
AP

Wie stark ist Russland als Atommacht?

Nach dem jüngsten Sipri-Jahresbericht aus dem vergangenen Juni verfügte Russland Anfang 2021 über 6'255 Atomwaffen. Die USA kamen zu dem Zeitpunkt auf 5'550 solcher Sprengkörper. Insgesamt haben die neun Atommächte der Erde schätzungsweise 13'080 Atomwaffen in ihrem Besitz.

«Russland verfügt über das ganze Arsenal von land-, see- und luftgestützten Kernwaffen», erklärt Thränert. Dazu gehören Raketen mit strategischer Reichweite, mit denen Ziele in den USA angegriffen werden können. Aber auch Atomwaffen mit nicht strategischer Reichweite habe Russland im Arsenal: «Diese sind zum grösseren Teil auf Ziele in Europa gerichtet.»

Was würde eine nukleare Eskalation bedeuten?

«Ein Einsatz von Atomwaffen ist nicht zwangsläufig das Ende der Welt», sagt Oliver Thränert. «Putin würde nicht gleich sein ganzes Arsenal abfeuern. Er kann aber mit begrenzten Nuklearschlägen deutlich machen, dass er es ernst meint.»

Was wären mögliche Ziele solcher Angriffe?

Das liesse sich nicht im Vorhinein sagen. Laut Thränert wären militärische Ziele und infrastrukturelle Knotenpunkte in Mitteleuropa denkbar: im Nachbarland Deutschland etwa die Frankfurt Air Base der US-Army oder der Hafen in Bremerhaven. «Auch wenn wir im Moment noch weit davon entfernt sind», sei es nicht völlig ausgeschlossen, dass es dazu kommen könne.

Dass die Nato keinerlei Anstalten mache, sich in den Ukraine-Krieg einzumischen, sei in dieser Hinsicht vernünftig. Dies sei genau der Effekt, den Putin mit den russischen Atomwaffen erreichen wolle. «Wenn es die Atomwaffen nicht gäbe, könnte die Nato an der Seite der Ukrainer, die ganz klar die Opfer sind, militärisch gegen die Russen vorgehen.»

Dass darüber gar nicht erst nachgedacht wird, sei genau der Effekt, den Putin erzielen wolle: nämlich «seine Invasion gegen jegliche westliche Einmischung abzuriegeln».

Welche Abwehrmöglichkeiten gäbe es?

«Der Verteidiger ist im Fall eines Angriffs mit einer Atomrakete vor enorme Herausforderungen gestellt» sagt Thränert. Ob ein Abwehrsystem im Ernstfall funktionieren würde, sei fraglich, weil die Tests dieser Systeme oftmals unter nicht realistischen Bedingungen stattfänden.

«Wenn Russland wirklich Atomwaffen einsetzt, würde das grosse Schäden anrichten, ohne dass wir viel dagegen unternehmen können.» Deswegen sei die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung durch die Nato wichtig, um Wladimir Putin klarzumachen, dass es bei einem Angriff mit Atomwaffen einen Gegenschlag geben würde, sagt Thränert. «Das ist die Logik, mit der wir im Prinzip seit den 1950er-Jahren leben.»

Ist nukleare Abschreckung noch zeitgemäss?

Sipri-Chef Dan Smith kann dem Argument, Atomwaffen trügen zur internationalen Stabilität bei, nichts abgewinnen. «Leute, die so argumentieren, sollten sich die Instabilität ansehen, die wir im Moment erleben», sagt er. «Nein, Atomwaffen tragen nicht zur Stabilität bei. Sie tragen zu gegenseitigem Misstrauen, Feindseligkeit und Unsicherheit bei.»

Welche Länder verfügen über Atomwaffen?

Offiziell im Besitz von Atomwaffen sind neben Russland und den USA auch Grossbritannien, Frankreich und die Volksrepublik China. Diese fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrates sind dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten. Ferner gelten Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea als faktische Atommächte.

ETH-Konfliktforscher: «Die Ukraine kann nicht erwarten, dass der Westen sich einmischt»

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Der russische Präsident Wladimir Putin marschiert in der Ukraine ein – und der Westen reagiert mit Worten und Sanktionen. Hilflos? Nein, besonnen, findet der Konfliktforscher Lars-Erik Cederman von der ETH Zürich.

24.02.2022

Mit Material der Nachrichtenagentur SDA.