Ein Fluss wird kriegsentscheidend Deshalb zögert die Ukraine beim Überqueren des Dnjepr

Von Andreas Fischer

19.11.2022

Ukrainischer Innenminister: Leichen mit Folterspuren in Cherson entdeckt

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Die russische Armee gräbt sich nach dem Rückzug aus Cherson im Hinterland ein. Die Ukraine scheitert derweil noch am Dnjepr, den sie mit einer Art D-Day oder einem linken Haken überwinden könnte.

Von Andreas Fischer

19.11.2022

Die ukrainische Armee steht in Cherson am Westufer, die russischen Truppen haben am Ostufer schwere Verteidigungslinien aufgebaut: Und in der Mitte ein mächtiger Fluss. Keiner kann vor, keiner kann zurück. Zumal der Winter naht und «wenn die Temperaturen sinken, verlangsamen sich die Kämpfe. Wenn die Strassen unpassierbar werden, wird der Krieg normalerweise positionsbezogener», wie Oleg Zhdanov, Oberst der ukrainischen Reserve, dem «Economist» erklärte.

Doch bevor man über Truppenbewegungen an Land spricht, muss man erst mal den Dnjepr überwinden. Der drittlängste Strom Europas ist in der Südukraine zwischen 400 Meter und 1,5 Kilometer breit.

Auch wenn die Ukraine ihre erfolgreiche Offensive gern fortsetzen würde: Einfach auf die andere Seite marschieren können ihre Truppen nicht. Die Antoniwkabrücke bei Cherson ist zerstört, die Pontonbrücke der russischen Armee ebenfalls. Alle anderen Brücken sind unrealistisch weit entfernt. Bleibt der direkte Weg übers Wasser: Doch von einem D-Day ist die Ukraine noch ein gutes Stück entfernt.

Ukrainer verharren am Westufer

Trotzdem kursieren bei Twitter Meldungen, dass die Ukraine die Kontrolle über einige Regionen am Ostufer erlangt habe. Das tönt, als sei doch eine Art D-Day im Gange, zumal ein hoher ukrainischer General als Quelle genannt wird. Doch weit gefehlt: Bislang gibt es keine Bestätigung, dass die ukrainische Armee Truppen ans andere Ufer gebracht hat.

Vielmehr, so interpretiert die Denkfabrik Institute for The Study of War die bei Twitter aus dem Kontext gerissene Äusserung von Brigadegeneral Oleksiy Hromov, habe die Ukraine in einigen Regionen die Feuerkontrolle über das Ostufer des Dnjepr.

Die Truppen selbst sind momentan noch nicht in der Lage überzusetzen. Auch wenn es Anzeichen dafür gäbe, dass ukrainische Spezialeinheiten mit kleinen Booten die Mündung des Dnjepr überquert und die Kinburn-Nehrung erkundet haben, einen sandigen Streifen, der südlich der Flussmündung ins Meer ragt, wie «Forbes»-Autor David Axe schreibt.

Ein D-Day wäre technisch möglich, aber sehr riskant

Es wäre der Ukraine prinzipiell möglich, auf der linken Seite des Dnjepr einen Brückenkopf zu errichten. Man verfügt über das technische Gerät und militärische Wissen für eine solche Operation. Die entsprechenden Konzepte seien vor allem in den Staaten des Warschauer Pakts weiterentwickelt worden: «Die Entwickler der Sowjetära haben ihre Fahrzeuge deshalb häufiger für Schwimmeinsätze konzipiert als der Westen», wird der Militärhistoriker Ralf Raths vom Deutschen Panzermuseum im «Spiegel» zitiert

Die Risiken für eine solche Operation sind gross: Die russische Armee hat sich eingegraben und drei stark befestigte Verteidigungslinien aufgebaut. Sollte sich die Ukraine zu einem gewagten Landungsmanöver entscheiden, müsste sie hohe Verluste in Kauf nehmen. Truppen und Material würden umgehend unter Beschuss genommen und hätten keine Chance zur Verteidigung.

«Flussüberquerungen sind Momente höchster Konzentration und Gefahren für alle Beteiligten», sagt Raths. Auch Brigadegeneral Christian Freudig von der Bundeswehr geht nicht davon aus, dass die Ukraine den Fluss schnell überquert und die russische Armee frontal angreifen kann.

Das wäre ziemlich «naiv zu glauben», erklärt der Leiter des Sonderstabes Ukraine im deutschen Verteidigungsministerium in einem Bundeswehr-Interview auf Youtube. «Selbst sämtliche Pionier- und amphibischen Fähigkeiten, die die Nato hat, wären nicht ausreichend, um einen Brückenschlag zu vollziehen», so Freudig.

Der «linke Haken» als Option

Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, die russischen Stellungen zwischen Cherson und der Krim anzugreifen. Für den Militärexperten Mike Martin vom King's College in London ergibt eine riskante Flussquerung südlich von Cherson jedenfalls keinen Sinn. Stattdessen sollten die ukrainischen Streitkräfte eine neue Gegenoffensive von Gebieten aus starten, in denen sie den Dnjepr bereits überschritten haben.

Von der Oblast Saporischschja aus «könnten sie eine Achse nach Süden schlagen und versuchen, die russischen Streitkräfte in zwei Hälften zu teilen», twitterte Martin.

Sofern die Ukrainer die russischen Verteidigungsanlagen in der Oblast durchbrechen können, könnten sie nach Osten abbiegen und am linken Ufer des Dnjepr bis zur Mündung vorstossen. Das wäre, so Martin, «ein erfolgreicher linker Haken».

Die Krim rückt stärker in den Fokus

Auch ein Vorstoss Richtung Süden – auf das Asowsche Meer zu – gilt als Option. Mit dem Vordringen zwischen der Kleinstadt Tokmak und dem Verkehrsknotenpunkt Polohy bis hin zur Hafenstadt Berdjansk könnte Kiew einen Keil zwischen die im Süden der Ukraine stationierten russischen Truppen treiben. Der Landkorridor zur 2014 annektierten Halbinsel Krim wäre unterbrochen.

Dabei muss die ukrainische Armee mit ihrer präzisen weitreichenden Artillerie nicht komplett bis zur Küste vordringen. Ausreichend wäre eine Frontverschiebung um gut 20 Kilometer nach Süden, um Feuerkontrolle bis zur Küste zu erlangen. Damit könnten die russischen Nachschublinien massiv gestört werden, die aus dem Donbass und von der Krim in die besetzten Teile der Gebiete Cherson und Saporischschja führen.

Die Antoniwkabrücke bei Cherson ist komplett zerstört – über den Dnjepr kommt hier niemand mehr.
Die Antoniwkabrücke bei Cherson ist komplett zerstört – über den Dnjepr kommt hier niemand mehr.
AP