Lagebild Ukraine «Es sind zu viele von ihnen da»

Von Philipp Dahm

17.11.2022

Heftige russische Angriffe auf Ukraine: Bürger ohne Strom

Heftige russische Angriffe auf Ukraine: Bürger ohne Strom

Die Teilnahme des russischen Aussenministers Sergei Lawrow am G20-Gipfel auf Bali hat Moskau nicht davon abgehalten, nach dessen Abreise erneute, heftige Angriffe auf Ziele in der Ukraine zu starten – mit weitreichenden Folgen für die ukrainische Energieversorgung. So wurden angesichts russischer Angriffe mehrere Reaktoren zweiter ukrainischer Atomkraftwerke automatisch abgeschaltet, wie Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj angab.

16.11.2022

Während ukrainische Streitkräfte ins verminte Cherson nachrücken, bewegt sich an der Front zwischen Donezk und Charkiw wenig. Russland erleidet angeblich hohe Verluste, schiebt aber laufend Kräfte nach.

Von Philipp Dahm

17.11.2022

Der Herbst hat die Fronten in der Ukraine nun fest im Griff: Im Süden in Cherson wird es nur am Freitag trocken bleiben, doch wenigstens bleiben die Temperaturen in der kommenden Regenwoche über dem Gefrierpunkt. In Charkiw regnet es dagegen jeden Tag, und am kommenden Wochenende wird es nachts minus vier Grad kalt.

«Frühling und Herbst sind die schwierigsten Perioden im Krieg», erklärt Oleh Zhdanov, Oberst der ukrainischen Reserve, dem «Economist». «Das Hauptproblem ist der Regen. Wenn die Temperaturen sinken, verlangsamen sich die Kämpfe. Wenn die Strassen unpassierbar werden, wird der Krieg normalerweise positionsbezogener.»

Wer keine wasserdichte Kleidung oder einen wasserdichten Rucksack hat, setzt im Regen, der sich «wie Nadelstiche anfühlt» die Gesundheit aufs Spiel. Man kann sich auch ein Bein brechen, wenn das Nass die Rillen der Panzerketten in matschige Rutschen verwandelt. Und Gefahr lauert beim Nachrücken auch deshalb, weil das Gebiet grosszügig vermint wurde.

«Weil der Abzug der russischen Truppen geplant war, hatten sie mehr Zeit und einen guten Nachschub, um Minen zu legen und Sprengstoffe anzubringen», erklärt Tymur Pistriuha von der NGO Ukrainian Deminers Association dem «Guardian». «Weil die Räumungsarbeiten erst begonnen haben, können wir keine Vorhersagen treffen, aber Cherson könnte die am meisten verminte Region der Welt sein.»

Kreml verliert angeblich bis zu 800 Soldaten pro Tag

Die russischen Truppen haben sich weiter vom rechten Ufer des Dnjepr zurückgezogen, das tiefer liegt und schwer zu verteidigen ist. Laut dem Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) haben sie beim Dorf Bechtery rund 50 Kilometer von Cherson entfernt an einem Kanal eine Verteidigungslinie errichtet.

Rot markiert: Bechtery.
Rot markiert: Bechtery.
Google Earth

Berichte, nach denen ukrainische Truppen bereits über den Fluss und dem Gegner nachgesetzt haben, wurden nicht bestätigt. Gleichzeitig soll die militärische Führung ihre Leute angewiesen haben, operative Funkstille zu halten. Die ukrainische Artillerie versucht angeblich weiterhin, russische Nachschubwege und Truppenkonzentrationen ins Visier zu nehmen.

Oben ein Tweet von südamerikanischen Mitgliedern der Internationalen Legion der Ukraine vom 15. November – mit «guten Nachrichten» aus Gebieten, die östlich des Dnjepr liegen.

Rund 30'000 Soldaten hat Russland aus Cherson abgezogen: Die könnten nicht nur für die Verteidigungslinien östlich des Dnjepr eingesetzt werden, sondern auch die Offensiven unterstützen, die Moskau in Donezk und Luhansk führt. Dort rennt die Armee unbeirrt gegen gut befestigte ukrainische Stellungen an – und verliert nach ukrainischer Darstellung so in den letzten Wochen 500 bis 800 Soldaten pro Tag.

Von Donezk bis Charkiw: «Es sind zu viele von ihnen da»

Für das, was die russische Armee vorweisen kann, ist das ein hoher Preis: Unweit von Donezk City wurden einige Dörfer erobert. Auch um Bachmut herum wurde Boden gutgemacht. Gleichzeitig decken sich beide Seiten mit Artilleriegeschossen ein, fasst das ISW zusammen. 

Weiter südlich zwischen Luhansk und Charkiw kann ebenfalls keine Seite bedeutende Erfolge erzielen. Russische Militär-Blogger behaupten, die Ukraine würde Kräfte zusammenziehen, um die Achse Swatowe-Kreminna anzugreifen. Dabei stellt sich offenbar das Problem, dass die russische Mobilisierung Wirkung zeigt: «Es sind zu viele von ihnen da», sagt ein ukrainischer Panzerfahrer im unten stehenden Video.

Gefallene Gegner würden umgehend ersetzt: «Sie scheinen nicht zu realisieren, wo sie hingehen.» Ihre Frontlinie sei ein «Fleischwolf», sagen die Männer. Und selbst 325 Kilometer nördlich der Stadt Charkiw in ihrer Heimat sind Russen nicht sicher, wie eine Explosion in einem Treibstoff-Depot nahe der Stadt Orjol zeigt.

Wer liefert wem was?

Die engeren Wirtschaftsbeziehungen zwischen Moskau und Teheran scheinen sich weiter auszuzahlen: Nach Drohnen hat der Iran Russland nun offenbar auch Schutzwesten und Helme geliefert, wie Bilder auf Social Media suggerieren.

Apropos Drohnen: Es ist teuer, diese mit Raketen zu bekämpfen. Eine tschechische Firma will Abhilfe schaffen und produziert nun angeblich für Kiew das System Viktor: Der mobile Toyota-Pickup mit einer Flugabwehr-Maschinengewehr-Lafette eigne sich für diesen Job besonders, heisst es.

Schweden hat derweil ein «Winterpaket« für die Ukraine in Höhe von 270 Millionen Franken angekündigt. Das militärische Paket beinhalte ein Luftabwehrsystem sowie Munition, so Verteidigungsminister Pål Jonson. Um welchen Typ es sich handelt, will er aus Sicherheitsgründen nicht sagen. Es könnte sich um das heimische System RBS 23 Bamse handeln, das eine Reichweite von rund 20 Kilometer hat.

Saab-Werbefilm für das RBS 23 Bamse.

Export potenterer Waffen gefordert

Im Westen gehen unterdessen die Diskussionen weiter, in denen gefordert wird, der Ukraine potentere Waffen zu liefern. Ben Hodges, der frühere Kommandeur der US-Armee in Europa, plädiert für den Export von ATACMS-Raketen, die ukrainischer Artillerie vom Typ MLRS und Himars eine Reichweite von 300 Kilometer verschaffen würde.

In Deutschland geben zwei Aspekte zu reden: Zum einen berichtet der «Spiegel», die Bürger*innen hätten bis Mitte Oktober 846 Millionen Franken für die Ukraine gespendet – ein Rekord. Gleichzeitig fordern 70 Intellektuelle in einem offenen Brief, dem Land zu helfen, «diesen Kriegswinter zu überstehen».

«Die Niedertracht kennt immer noch Steigerungen», beginnt das Schreiben, die «in Tschetschenien und Syrien erprobten Methoden eines Vernichtungskriegs gegen die Zivilbevölkerung» werden gebrandmarkt und explizit auch «die Unterstützung der militärischen Widerstandskraft» gefordert – als «moralische Pflicht».