Experte zur Ukraine-Krise «Die Chance auf einen totalen Angriff schätze ich auf 20 Prozent»

Von Philipp Dahm

15.2.2022

Politologe Laurent Goetschel zur Kriegsgefahr in der Ukraine

Politologe Laurent Goetschel zur Kriegsgefahr in der Ukraine

Die Lage im Ukraine-Konflikt ist mehr als unübersichtlich: Was will Wladimir Putin erreichen und wie gross ist die Gefahr eines Krieges? Laurent Goetschel, Politologe der Uni Basel, erklärt Europas Dilemma.

14.02.2022

Die Lage im Ukraine-Konflikt ist mehr als unübersichtlich: Was will Wladimir Putin erreichen und wie gross ist die Gefahr eines Krieges? Laurent Goetschel, Politologe der Uni Basel, erklärt Europas Dilemma.

Von Philipp Dahm

15.2.2022

Washington warnt, eine Invasion der Ukraine stünde kurz bevor: Bis zum 16. Februar sei ein Angriff wahrscheinlich, glauben die USA. Was ist davon zu halten? Wie gross ist die Gefahr eines Krieges wirklich – und was will Präsident Wladimir Putin mit seinem Gebaren erreichen, falls er doch nicht attackiert?

Zur Person
blue News

Laurent Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace

blue News hat mit Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel, über die aktuelle Entwicklung gesprochen.

Herr Goetschel, warum gibt es immer wieder neue Warnungen vor einem möglichen Angriff?

Die Lage ist schwer einzuschätzen, weil es vor allem vonseiten Russlands zu einem geballten Aufmarsch gekommen ist, aber in den letzten Wochen und Monaten auch vermehrt von westlicher Seite, die Rüstungsgüter in die Ukraine liefert.

Wie gross ist die Gefahr denn wirklich?

Ich wäre erstaunt, aber man kann es nicht ausschliessen. Ich spreche nicht von begrenzten Aktionen im Osten, aber die Chance auf einen totalen Angriff würde ich auf 20 Prozent schätzen.



Warum so optimistisch?

Die Frage ist: Was ist der Zweck? Was will man erreichen? Wenn ich mir die Kommunikation seit Ende des letzten Jahres ansehe, gehen die Aussagen in Russland dahin, dass man das Mächtegleichgewicht in Europa verändern möchte. Es geht dabei nicht so sehr um die Besetzung von Territorien, sondern mehr darum, wer welche Einflusssphären beansprucht. Argumentiert wird mit dem Bedürfnis nach Sicherheit.

Bedürfnis nach Sicherheit: Wladimir Putin am 16. Juni 2021 in Genf.
Bedürfnis nach Sicherheit: Wladimir Putin am 16. Juni 2021 in Genf.
KEYSTONE

Könnte man nicht auch andersrum argumentieren?

Man kann natürlich sagen: Das ist nur Staffage und Putin sucht eine Ausrede, um einmarschieren zu können. Deswegen stellt er Forderungen, die der Westen nicht erfüllen kann. Die russische Propaganda würde es umdrehen und damit begründen, dass der Westen plant, Russland anzugreifen. Und Russland bleibt nichts übrig, als sich zu verteidigen.

Aber?

Ich glaube nicht, dass es so ablaufen wird. Es würde die russische Position letztendlich schwächen. Ein grossflächiger Einmarsch würde auf Jahre hinaus zu hohen Kosten führen und nach einer gewissen Zeit kämen die Folgen von Sanktionen hinzu. Das ist keine Perspektive. Ganz abgesehen davon bestehen enge Verbindungen zwischen Ukrainern und Russen.

Nach welchen Kriterien entscheidet Herr Putin?

Im Sinne der personifizierten Entscheidungsmacht hat ein Herr Putin sicher mehr Befugnisse als eine Regierung in der Schweiz. Wenn man die bisherige russische Aussen- und Sicherheitspolitik betrachtet, war das in den letzten Jahren und sogar Jahrzehnten eine sehr rationale Politik, die auf Machtkonsolidierung und -erweiterung ausgerichtet war. Aus russischer Sicht standen Aufwand und Ertrag dabei stets in einem guten Verhältnis. Aus diesem Grund wäre ich auch eher erstaunt, wenn es jetzt zu einem grossflächigen militärischen Angriff kommen würde.

Kriegsgefahr kleiner als gedacht? Ein ukrainischer Panzer am 10. Februar nahe Charkiw.
Kriegsgefahr kleiner als gedacht? Ein ukrainischer Panzer am 10. Februar nahe Charkiw.
AP

Welche Rolle spielen die Sanktionsdrohungen des Westens?

Kurzfristig bewirken Sanktionen ohnehin nie etwas. Wenn Wladimir Putin jetzt entscheidet, ich fliege, schwimme und renne in die Ukraine, werden ihn keine Sanktionen daran hindern. Aber es wäre sicher so, dass das ökonomisch nach einer Zeit zu spüren wäre. Es ist die Frage, welche Sanktionen ausgesprochen würden: Das ist ja noch offen.

Wie heftig könnten sie ausfallen?

Die Schwere wird davon abhängen, was Russland tatsächlich macht. Im Vorhinein die Karten auf den Tisch zu legen und etwa zu sagen, Nord Stream 2 würde sterben, das machen vielleicht die Amerikaner, aber die Deutschen würden das nicht sagen. Das ist ein Trumpf, den sie gewissermassen in der Hand behalten wollen.

Was will Putin denn erreichen?

Russland will gewisse Dinge klären – vor dem Hintergrund der Dinge, die nach dem Kalten Krieg geschehen sind und bei denen die zerfallende Sowjetunion Federn gelassen hat. Das soll nicht einseitig geschehen – etwa in dem der Westen entscheidet, wen er in die Nato aufnimmt oder nicht. Russland will Zusicherungen haben, welcher Art auch immer.

Soldaten der 82nd Airborne Division am 14. Februar vor ihrer Verlegung nach Europa im Fort Bragg in North Carolina.
Soldaten der 82nd Airborne Division am 14. Februar vor ihrer Verlegung nach Europa im Fort Bragg in North Carolina.
AP

Gibt es dabei auch innenpolitische Hintergedanken?

Nach innen könnte Putin damit auftrumpfen. So nach dem Motto: Ich habe die Ukraine als zugewandten Ort gesichert. Somit stünde Russland wieder im Zentrum der europäischen Sicherheit – darum geht es. Damit würde Putin nicht einen Schuss abgeben: Er spielt mit den Muskeln und zeigt, wer er ist.

Sie meinen, Putin geniesst die Angst vor seiner Person?

Die Russen können den Amerikanern sagen: Kommt jetzt nach Genf! Wir wollen mit euch in Brüssel reden, dann in Wien – und die traben an. Das Spiel auf die Spitze zu treiben, ohne einen Schuss abzugeben, und dann etwas erhalten, wäre dann Putins Meisterstück. Wenn es Krieg geben würde, hätte man den Klimax überschritten.

Wie bewerten Sie die bisherigen Nato-Angebote?

Russland möchte mehr. Es ist wohl irgendwas mit Bezug auf die Ukraine. Ich weiss nicht, ob wir kurzfristig erfahren werden, worum es dabei geht. Verhandlungsmasse könnte die von Separatisten besetzten Gebiete im Südosten der Ukraine sein, aber es könnte auch generell um deren zukünftigen sicherheitspolitischen Status oder um Nord Stream 2 gehen.

Spiel auf die Spitze treiben: US-Präsident Joe Biden (links) und sein russischer Kollege im Juni 2021 in Genf.
Spiel auf die Spitze treiben: US-Präsident Joe Biden (links) und sein russischer Kollege im Juni 2021 in Genf.
KEYSTONE

Hat die Ukraine eine Chance, Nato-Mitglied zu werden?

Was der Westen nicht machen wird, ist Russland erst zu fragen, bevor man neue Nato-Mitglieder aufnimmt. Aber man könnte in eine Lage geraten, in der die Ukraine faktisch nicht zur Aufnahme fähig wäre. So wie die russische Seite kommuniziert, könnte sie auch das als grossen Gewinn auslegen.

Was macht der permanente Druck mit Kiew?

Ich denke, die Ukrainer sind einer gewissen russischen Propaganda schon länger ausgesetzt. Der grosse Schock kam 2014 mit der Annexion der Krim: Stellen Sie sich vor, die Österreicher übernehmen auf einmal das Toggenburg – da wären wir auch entsetzt. Aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Druck für das Gros der Bevölkerung gar nichts Besonderes ist und sie sich davon abschirmen. Vielleicht auch, weil sie die eigenen Politiker auch nicht unbedingt so ernst nehmen. Eines der grossen Probleme der Ukraine ist ja die Korruption, die dem Ansehen der politischen Klasse abträglich ist.