Inszenierte Migrationskrise Der Diktator zündelt und ruft weitere Hitzköpfe auf den Plan

Von Philipp Dahm

12.11.2021

Westen verurteilt Belarus in UN-Sicherheitsrat wegen Flüchtlingskrise an Grenze

Westen verurteilt Belarus in UN-Sicherheitsrat wegen Flüchtlingskrise an Grenze

Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zur Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU haben die USA und die europäischen Mitglieder des Gremiums die «orchestrierte Instrumentalisierung von Menschen» durch Minsk veru

12.11.2021

Die Krise an Weissrusslands Grenze schlägt weiter Wellen: Moskau lässt Atombomber aufsteigen, Belarus will Gaslieferungen stoppen und in Polen protestieren Rechte gegen Flüchtende – und gegen den Westen.

Von Philipp Dahm

12.11.2021

Auch in der vergangenen Nacht hat die polnische Grenzwacht nach eigenen Angaben wieder illegale Grenzübertritte verhindert.

Dabei hätten Soldaten aus Weissrussland in der Nähe des Ortes Kuznica am Donnerstagabend versucht, eine Gruppe von rund 35 Migranten gewaltsam nach Polen zu drängen, zitierte die Agentur PAP Polizeisprecher Tomasz Krupa. Ein Übertritt sei dennoch verhindert worden.

Polnische Grenzwächter nahe Kuznica am 11. November.
Polnische Grenzwächter nahe Kuznica am 11. November.
KEYSTONE

Während die Bilder und Videos der Krise an der Grenze im Vordergrund stehen, spielen sich im Hintergrund ganz unterschiedliche Konflikte ab, die internationale Beziehungen belasten und die Gaspreise in Europa ansteigen lassen dürften. Hier eine Übersicht der verschiedenen Brandherde.

Einordnung aus der Schweiz

Die Justizministerin ist ob der Vorgänge in Osteuropa «sehr empört», sagt Karin Keller-Sutter – und erläutert im Interview mit «20 Minuten» die Hintergründe der Krise: «Die Personen, die jetzt an der Grenze in Polen und Litauen stehen, kommen mit Visa, die Belarus ausgestellt hat. Belarus versucht, die EU zu destabilisieren, indem es Migrationsströme ‹produziert›.»

Weiter glaubt, die FDP-Politikerin, «dass die EU sehr klar reagieren muss»: «Ein Teil der Lösung liegt sicher auch in Russland, weil Belarus von Moskau protegiert wird.» Eine Aufnahme der Geflüchteten, die «vor allem Syrer und Iraker» sein sollen, stehe nicht zur Debatte – «weil die Erpressung sonst Wirkung hätte», wie die 57-Jährige erklärt.

Lukaschenkos Drohungen

Die EU denkt wegen der Krise laut über neue Sanktionen gegen Belarus nach. Die Massnahmen, die sich etwa gegen Fluggesellschaften oder Reiseveranstalter richten könnten, sollen nach Angaben von Diplomaten bereits am kommenden Montag beim Treffen der Aussenminister formell beschlossen werden.

Für diesen Fall hat Alexander Lukaschenko bereits Vergeltung angekündigt. «Wir beheizen Europa», pöbelt der Diktator in einer Sitzung mit ranghohen Funktionären und Militärs am Donnerstag in Minsk, «und sie drohen uns noch damit, die Grenze zu schliessen.»

Teilt gerne aus: Alexander Lukaschenko Mitte September in Duschanbe in Tadschikistan.
Teilt gerne aus: Alexander Lukaschenko Mitte September in Duschanbe in Tadschikistan.
KEYSTONE

Lukaschenko weiter: «Was, wenn wir das Gas abstellen? Ich würde der Führung von Polen, den Litauern und anderen Hohlköpfen raten, erst zu denken und dann zu reden.» Durch Belarus verläuft ein Teil der wichtigen Pipeline Jamal-Europa. Die Hauptmengen von Gas aus Russland fliessen allerdings durch die Ukraine und die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1.

Auch mit Blick auf die Geflüchteten selbst macht Minsk mobil. Wie die russische Nachrichtenagentur «Tass» berichtet, fürchtet Alexander Lukaschenko, dass der Westen die Migranten bewaffnet. Seine Militärs seien besorgt: «Es wurden Versuche unternommen, den Leuten im Flüchtlingscamp Waffen, Munition und Sprengstoff zu liefern», wird er zitiert. «Zusammen mit Russland haben wir ein Auge auf die Situation.»

Rechte Polen protestieren

Durch den Konflikt an der Grenze tritt auch die Spaltung der polnischen Gesellschaft offen zutage. Auf der einen Seite gab es im Oktober Proteste für mehr Menschlichkeit, nachdem die Asylgesetze verschärft worden sind. Auf der anderen Seite sind deutlich mehr Menschen gestern nach Warschau geströmt, um beim «Unabhängigkeitsmarsch» gegen Geflüchtete und die EU zu demonstrieren.



Rechtsgerichtete Gruppen haben zu der Aktion aufgerufen, und mehrere Zehntausend sind gekommen – darunter auch prominente Köpfe der Regierungspartei PiS. Plakate wie «Die USA sind das Zentrum des Bösen» und «Keine Kriege für Israel» werden in Warschau gezeigt, und Teilnehmer verbrennen symbolisch die Flagge der Bundesrepublik.

«Ein Krieg findet statt», zitiert «Notes from Poland» Robert Bakiewicz, den Organisator der Demonstration. «Der Krieg tobt nicht nur an der Grenze, sondern auch mit Deutschland und der Europäischen Union. Polen wird nicht nur von Moskau im Osten attackiert, das Belarus benutzt, sondern auch vom Westen.» Und das, obwohl Europol Polen helfen wollte, und die EU anbot, neue Grenzzäune aus Brüssels Budget zu bestreiten.

Wer Rechtsaussen Bakiewicz zuhört, muss jedoch glauben, es herrsche ein Kampf der Kulturen. «Wir werden von Deutschland angegriffen, das die EU-Institutionen dazu einsetzt, uns die Souveränität zu nehmen. Sie wollen uns unsere nationale, kulturelle und sogar unsere Geschlechter-Identität wegnehmen.»

Russland lässt die Muskeln spielen

Der Kreml hat gestern die Idee als «verrückt» zurückgewiesen, dass Moskau in der Krise Einfluss genommen habe und deshalb ebenfalls mit Sanktionen belegt werden könne. Heute liess Putins Sprecher zumindest durchblicken, Russland könne einspringen, falls Belarus Gas-Pipelines schliessen sollte. 

«Russland war, ist und wird immer ein Land sein, das seine Verpflichtungen zur Gasversorgung der europäischen Verbraucher erfüllt», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Freitag der Agentur Interfax zufolge. Die «zuverlässigen Lieferungen» erfolgten unabhängig von den Handlungen Minsks.

Doch insgesamt steht Russland hinter Belarus: Gestern wurden zwei atomwaffenfähige Kampfflugzeuge zu einer Übungsmission über Belarus entsandt. Beobachter sahen darin ein Signal der Unterstützung Moskaus für seinen Verbündeten im Streit um die Migrantenkrise. Zwei strategische Bomber vom Typ Tu-160 hätten auf dem Militärgelände Ruschanski Abwürfe geprobt, erklärte Minsk.

Eine Tu-160 vor dem Start in Russland: Der Überschall-Bomber hat den Spitznamen «Weisser Schwan».
Eine Tu-160 vor dem Start in Russland: Der Überschall-Bomber hat den Spitznamen «Weisser Schwan».
KEYSTONE

Als Teil der gemeinsamen Übung hätten belarussische Kampfjets ein Abfangmanöver simuliert, hiess es weiter. Es war das zweite Mal binnen zwei Tagen, dass Russland atomwaffenfähige Kampfflugzeuge in den Luftraum über Belarus entsandte. Am Mittwoch hatten zwei Langstreckenbomber vom Typ Tu-22M3 eine ähnliche Patrouille geflogen.

Gleichzeitig ist Moskau gegen interne Kritiker vorgegangen: Die Justiz wirft der Menschenrechtsorganisation Memorial Verstösse gegen das Gesetz über «ausländische Agenten» vor. Die russische Generalstaatsanwaltschaft beantragte beim Obersten Gericht des Landes, den Rechtsstatus der Menschenrechtsgruppe aufzuheben, die für ihre Studien zu politischer Unterdrückung in der Sowjetunion bekannt wurde. 

Mit Material von DPA.