Abkehr von westlichen Werten Putin lässt den russischen Kulturbetrieb rigoros «säubern»

Von Marina Lapenkova, AFP/uri

16.8.2022

Russlands Präsident Wladimir Putin mit einem Staatsgast im Jahr 2017 im Bolschoi-Theater in Moskau. (Archiv)
Russlands Präsident Wladimir Putin mit einem Staatsgast im Jahr 2017 im Bolschoi-Theater in Moskau. (Archiv)
Bild: Keystone

Russlands Präsident Wladimir Putin fordert die «Selbstreinigung» der Gesellschaft. In Teilen des Kulturbetriebs kommt die Rückbesinnung auf russische Werte gut an. 

Von Marina Lapenkova, AFP/uri

Die Welt hat genug von «liberalen Werten». Davon ist der russische Kinostar Sergej Besrukow überzeugt. Russlands «Militäreinsatz» in der Ukraine und die westlichen Sanktionen gegen sein Land können seiner Ansicht nach dabei helfen, dass die russische Kultur endlich wieder ihren eigenen Weg geht – mit konservativen Werten, Patriotismus und dem orthodoxen Glauben.

«Wir müssen die Isolation (Russlands) nutzen, um uns wieder mit unseren Traditionen zu verbinden», sagt Besrukow, einer der beliebtesten Künstler Russlands, in einem Interview mit AFP. Anstatt zu Hollywood aufzublicken, sollte Russland seine eigene Kultur aufbauen. Er plädiert dafür, die russische Kultur von westlichem Einfluss «zu säubern».

«Seit 30 Jahren leben wir im Marvel-Universum», sagt der 48-jährige Schauspieler und Regisseur mit Blick auf die US-Filmindustrie. «Es ist an der Zeit, unser eigenes zu schaffen», fordert Besrukow am Moskauer Gubernskij-Theater, wo er Künstlerischer Leiter ist.

«In die Zeiten der UdSSR zurückzukehren, ist unmöglich, aber wir können versuchen, das Vertrauen in Russland wiederherzustellen», fügt er hinzu. Von der Europäischen Union wurde Besrukow kürzlich wegen seiner Unterstützung des russischen Angriffs auf die Ukraine mit Sanktionen belegt.

Inoffizielle «schwarze Liste» mit rund 40 Namen

Schon in der Vergangenheit hat sich Kreml-Chef Wladimir Putin stets als Hüter traditioneller Werte wie der Ehe zwischen Mann und Frau sowie der Religion ausgegeben und betont, dass westliche liberale Werte obsolet geworden seien. Seit dem Beginn von Moskaus Angriffskriegs in der Ukraine haben die Behörden ihre Bemühungen verdoppelt, mit westlichen Werten zu brechen – und viele Künstler sagen, dass die Kunst dabei die Hauptrolle spielen sollte.

«Russland steht an der Schwelle zu einer konservativen Revolution», sagt der Theaterproduzent und Regisseur Eduard Bojakow, der sich für den «heiligen Krieg» Russlands in der Ukraine einsetzt, wie er es nennt.

Nach Beginn der Offensive in der Ukraine Ende Februar verliessen zahlreiche Künstler Russland, darunter der Regisseur Kyrill Serebrennikow und die Schauspielerin Schulpan Chamatowa. Diejenigen, die noch im Land sind, stehen unter wachsendem Druck, die Intervention in der Ukraine zu unterstützen. Viele Kremlgegner können in Russland nicht mehr auftreten.

«Seit Februar wurden mehr als hundert Musikaufführungen abgesagt», sagt Alexej Kosin, Direktor von Navigator Records, einem grossen russischen Musiklabel, das sich auf Rock spezialisiert hat. Eine inoffizielle «schwarze Liste» bestehe derzeit aus rund 40 Namen, darunter Jurij Schewtschuk, ein legendärer Rockmusiker, der den Kreml während eines Konzerts im Mai beschuldigte, junge Russen und Ukrainer zu «töten».

«Ewiger Kampf zwischen Westlern und Slawophilen»

Ende Juli forderte der Vorsitzende der kremlfreundlichen Partei «Gerechtes Russland», Sergej Mironow, eine «weisse Liste patriotischer Künstler», um der Öffentlichkeit zu erklären, «wer in der russischen Kunst heute wer ist».

Im Juni kündigten die Moskauer Behörden einen Austausch der Führung in drei der besten Theater der Hauptstadt an. Das Gogol-Zentrum, von Serebrennikow zu einer Bastion künstlerischer Freiheit ausgebaut, wurde geschlossen. Hinzu kommen Absagen von Ausstellungen.

«Inmitten des Krieges in der Ukraine findet in Russland eine Kulturrevolution statt», warnt die im Exil lebende Chefredaktorin der Zeitschrift «Teatr», Marina Dawidowa, in den sozialen Netzwerken.

«Nach 30 Jahren pro-westlichem Liberalismus ist in Russland eine konservative Revolution im Gange», freut sich Olga Andrejewa von der russischen konservativen Wochenzeitung «Expert». «Dies ist der Moment der Wahrheit auf Russlands Weg im ewigen Kampf zwischen Westlern und Slawophilen», sagt sie.

Putin gibt dabei den Ton vor: Im März forderte er die «Selbstreinigung» der Gesellschaft und sagte, die Russen würden «Gesindel und Verräter» ausspucken, die in Russland ihr Geld verdienten, aber lieber nach westlichem Stil lebten. Als Symbol dieser Kehrtwende ziert den neuen 100-Rubel-Schein seit Ende Juni das Denkmal des unbekannten Soldaten. Vorher war dort der griechische Gott der Künste Apollo am Giebel des Bolschoi-Theaters abgebildet.