Eindrückliche Bilder Frauen an vorderster Front – die Proteste im Libanon erklärt

Philipp Dahm

25.10.2019

Protest in Beirut: Mütter bringen ihre Kinder mit.
Protest in Beirut: Mütter bringen ihre Kinder mit.
Bild: Keystone

Seit acht Tagen gehen die Menschen im Libanon auf die Strasse – doch mit den bereits erreichten Kompromissen geben sich die Bürger längst noch nicht zufrieden.

Was waren die Auslöser für die Massenproteste?

Beirut galt einst als «Paris des Nahen Ostens», und der Libanon wurde weltweit für seine Offenheit und Toleranz geschätzt. Heute gibt das Land ein komplett anderes Bild ab: Noch 2017 lebten im Libanon in Relation zur Bevölkerung mehr Milliardäre als in den USA, aber das Gros der mehrheitlich jungen Bevölkerung ist arm und arbeitslos.

Der Staat kann kaum helfen: Er ist mit satten 151 Prozent des Bruttoinlandproduktes verschuldet. Weil die Verwaltung per Proporzsystem besetzt wird, um den verschiedenen Religionen gerecht zu werden, ist sie wenig effektiv.

Demonstranten treffen auf Sicherheitskräfte.
Demonstranten treffen auf Sicherheitskräfte.
Bild: Keystone

Auf diesem Boden haben zwei Ereignisse dafür gesorgt, dass die Saat zivilen Protestes aufgeht: Ende September enthüllte die «New York Times», dass sich Ministerpräsident Saad Hariri offenbar in ein südafrikanisches Model verguckt hat – er soll sie in einem Luxushotel auf den Seychellen kennengelernt haben.

Stolpert Hariri über Candice van der Merwe?
Stolpert Hariri über Candice van der Merwe?
Screenshot: YouTune

Der Sunnit liess ihr gemäss «NYT» Geld und Geschenke im Wert von 16 Millionen Dollar zukommen. Doch gleichzeitig rief er in seinem Land im September den «ökonomischen Ausnahmezustand» aus. Als die Regierung dann auch noch verkündete, eine tägliche Steuer auf mobile Dienste wie WhatsApp zu erheben, brachen beim von Korruption und Missmanagement gebeutelten Volk endgültig die Dämme.

Wer sind die Protestierenden?

Seit letzten Donnerstag gehen die Menschen im Libanon auf die Strasse. Sie zeigen in einem Land, indem das Politische eben nach Proporz behandelt wird, eine ungewohnte Geschlossenheit: Die Demonstranten kommen aus fast allen Schichten, Ethnien und Religionen.

«Ich hätte nicht gedacht, dass Leute aus dem Norden und Süden des Landes nach Beirut kommen, um sich die Hand zu reichen», bringt die 32-jährige Sahar Younis auf Nachfrage von «Haaretz» ihr Erstaunen zum Ausdruck. Die Proteste haben alle zusammengebracht, und das ist vorher noch nie passiert.»

Nun demonstrieren Jugendliche zusammen mit Gewerkschaftern und christliche Maroniten und mit Anhängern der schiitischen Hisbollah – jene warnte schon eindringlich vor einer «Explosion», falls die Steuern weiter steigen sollten. Und: In vorderster Reihe stehen im Libanon auch viele Frauen.

Was zeichnet die Proteste aus?

Natürlich ist der Libanon ethnisch und religiös diverser als etwa Saudi-Arabien, aber das allein erklärt noch nicht, dass die Zivilgesellschaft in Beirut sehr viel weiter als in Riad ist. Dies zeigt sich auch in der zumeist friedlichen Form des Protests.

Nicht immer ist der Protest einig: Hier trennt die Polizei Demonstranten und Hisbollah-Anhänger.
Nicht immer ist der Protest einig: Hier trennt die Polizei Demonstranten und Hisbollah-Anhänger.

Teils spielen sich bewegende Szenen ab. «Wir demonstrieren auch für eure Familien», sagen einige Demonstranten im Gespräch mit Soldaten, wie auf Videos in sozialen Medien zu sehen ist, und andere Protestierende schenken den Uniformierten weisse Blumen. In einem Video kommt sogar ein weinender Soldat vor.

Protest floral – lasst Blumen sprechen.
Protest floral – lasst Blumen sprechen.
Bild: Keystone

Zu heiklen Situationen kommt es freilich auch: Als Ende der letzten Woche das Auto von Bildungsminister Akram Schahajib von Demonstranten aufgehalten wird, steigt sein Leibwächter aus und heizt die Situation mit einem Warnschuss weiter an. Das wollte sich eine Libanesin nicht gefallen lassen: Sie ging ohne Furcht auf den Schützen zu und trat ihn in den Unterleib. Das Video dazu ging viral.

Und dann gab es jene Demonstranten, die einer Frau mitsamt ihrem 15 Monate alten Sohn Robin im Weg waren. Als Eliane Jabbur die Männer ermahnt, bloss nicht ihr Kind zu erschrecken, singen die Protestierenden «Baby Shark» und entspannen so die Situation. Noch so eine Szene, die sich in Saudi-Arabien so wohl nicht abgespielt hätte.

Beirut hat sogar Vorbildcharakter: Dass bei den Kundgebungen viele der Demonstrierenden weiblich sind, weckt die Neugier anderer Frauen – national wie auch in anderen, arabischen Ländern. «Die ganze Gesellschaft interessiert sich dafür, was hier passiert», sagte Soziologe Nasser al-Jabi der «Deutschen Welle». Es könnte ein Beispiel sein, dem andere folgen.

Warum spielen die Palästinenser eine Sonderrolle?

Christen, Schiiten und Sunniten gehen einträchtig auf die Strasse, doch eine Bevölkerungsgruppe ist aussen vor: Obwohl es kein Gesetz gibt, dass das Zeigen von Flaggen verbietet, jagt die Polizei allen Autos hinterher, auf dem die palästinensische Fahne zu sehen ist, berichtet die libanesische Tageszeitung «Al Akhbar». Die Lenker werden demnach mit Beträgen bis zu umgerechnet 110 Franken gebüsst.

Der Grund für diese Diskriminierung ist ein historischer: Nach den Kriegen mit Israel 1948 und 1967 wurden die geflüchteten Palästinenser in eigenen Quartieren ausgegrenzt und häufig wie Aussätzige behandelt. Die libanesische Regierung tat immer so, als würden die palästinensischen Flüchtlinge nur temporär im Land bleiben.

Bengalische Feuer bei einer Demonstration.
Bengalische Feuer bei einer Demonstration.
Bild: Keystone

Beirut will schlicht nicht Gefahr laufen, zum legitimen Nachfolger Palästinas erklärt zu werden. Denn dann würden viele weitere palästinensische Flüchtlinge aus anderen Staaten ins Land kommen, und in der Folge würde das Übergewicht an Sunniten das Proporzsystem an seine Grenzen bringen.

Wie sind die Reaktionen auf die Proteste?

Der Vorsitzende der christlichen, rechtsgerichteten Libanesischen Kräfte (CLF), Samir Geagea, gab am Samstagabend bekannt, dass er alle vier Minister seiner Partei zum Rücktritt aus dem Kabinett aufgefordert habe. Er glaube nicht länger, dass die Regierung der nationalen Einheit unter Ministerpräsident Saad Hariri das Land aus der wirtschaftlichen Krise führen könne.

Tanzen auf Beiruts Strassen.
Tanzen auf Beiruts Strassen.
Bild: Keystone

Das Kabinett hat am Montag ein Paket mit Reformen vorgelegt. Dazu zählt unter anderem die Senkung der Gehälter für Minister und Abgeordnete um 50 Prozent. Die Rufe nach einem neuen politischen System werden immer lauter. Neben der CLF haben auch andere Kritiker der Regierung vorgeworfen, Reformen über Jahre verschleppt zu haben.

Ein verletzter Demonstrant wird abtransportiert.
Ein verletzter Demonstrant wird abtransportiert.
Bild: Keystoone

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte, dass Sicherheitskräfte mit übermässiger Gewalt vorgegangen seien, um «einen überwältigend friedlichen Protest» zu beenden. Die Polizei habe etwa am Mittwoch grosse Mengen Tränengas eingesetzt und Protestler mit gezogenen Waffen in Gassen gejagt und sie geschlagen, teilte Amnesty mit.

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