Blätter als Zucker-Ersatz Müll aus dem Meer gibt Einblick ins abgeschottete Nordkorea

Von Hyung-Jin Kim, AP

23.4.2022 - 18:36

Die Vielfalt, Menge und zunehmend gute Verarbeitung angeschwemmter Produkte bestätigt für den Wissenschaftler Kang Dong Wan Berichte, denen zufolge Nordkorea die Produktion verschiedener Verbraucherartikel und Verbesserungen beim Produkt-Design vorantreibt. 
Die Vielfalt, Menge und zunehmend gute Verarbeitung angeschwemmter Produkte bestätigt für den Wissenschaftler Kang Dong Wan Berichte, denen zufolge Nordkorea die Produktion verschiedener Verbraucherartikel und Verbesserungen beim Produkt-Design vorantreibt. 
Ahn Young-Joon/AP/dpa

Bonbonpapiere, Waschmittelverpackungen und leere Snacktüten sind für einen südkoreanischen Professor wahre Schätze – wenn sie aus Nordkorea stammen. Er sammelt angeschwemmten Müll ein und liest daraus viel ab.

23.4.2022 - 18:36

Wenn die Wellen Müll auf die Strände der südkoreanischen Grenzinseln vor der Westküste spülen, begibt sich Kang Dong Wan oft auf Schatzsuche. Für ihn sind diese Schätze Abfälle aus Nordkorea, denn sie erlauben Einblicke in das tägliche Leben in einem der abgeschottetsten Länder der Welt. Der Professor an Südkoreas Dong-A-Universität ist erpicht auf alles Mögliche, von Snacktüten, Saftbeuteln und Bonbonpapier bis hin zu Flaschen.

«Das hier kann sehr wichtiges Material sein, denn wir können lernen, welche Produkte in Nordkorea hergestellt werden und welche Waren die Menschen dort verwenden», sagte der 48-Jährige der Nachrichtenagentur AP. Vor Corona hatte er regelmässig Nordkoreaner in chinesischen Grenzstädten getroffen. Auch kaufte er nordkoreanische Produkte und fotografierte vom Ufer des Grenzflusses aus nordkoreanische Dörfer.

Aber Chinas Beschränkungen für ausländische Besucher wegen der Pandemie haben das unmöglich gemacht. Und so war Kang denn gezwungen, anhand angeschwemmten Abfalls zu studieren, was in Nordkorea vor sich geht. 

Gib mir deinen Müll und ich sag dir, wer du bist

Die Vielfalt, Menge und zunehmend gute Verarbeitung der angeschwemmten Produkte bestätigt nach seiner Meinung Berichte der nordkoreanischen Staatsmedien, denen zufolge Staatschef Kim Jong Un die Produktion verschiedener Verbraucherartikel und Verbesserungen beim Produkt-Design vorantreibt.

Kang Dong Wan präsentiert am 4. April in Seoul die «Schätze»,. die ihm das Meer aus Nordkorea gebracht hat.
Kang Dong Wan präsentiert am 4. April in Seoul die «Schätze»,. die ihm das Meer aus Nordkorea gebracht hat.
Keystone

Indem er die Lebensumstände der Nordkoreaner verbessert und sie neue Produkte auf Märkten kaufen lässt, sichert Kim auch sein eigenes politisches Überleben, ist Kang überzeugt. «Die gegenwärtigen Einwohner Nordkoreas sind eine Generation, die erkannt hat, was der Markt und die Wirtschaft sind», sagt Kang. «Kim kann ihre Unterstützung nicht gewinnen, wenn er sie nur unterdrückt und kontrolliert, während er an seinem Atomentwicklungsprogramm festhält.» 

Seit September 2020 hat der Professor fünf südkoreanische Grenzinseln besucht und etwa 2000 Teile nordkoreanischen Mülls gesammelt. Er war erstaunt über die Dutzenden verschiedenen Arten von farbigem Verpackungsmaterial, die er sah, jede für bestimmte Produkte wie Gewürze, Eiscremeriegel Joghurt oder auch Kuchen.  Viele wiesen auch eine Vielfalt grafischer Elemente auf, Zeichentrickfiguren etwa und diverse Schriftvarianten, wie er schildert.

Baum-Blätter als Zucker-Ersatz

Manches könne nach westlichen Standards immer noch veraltet erscheinen und sei offensichtlich südkoreanischen und japanischen Designs nachgeahmt. Andere Experten studieren das Angebot an Waren in Nordkorea und die Art der Verpackungen anhand der Berichte und Sendungen von Staatsmedien. Aber Kangs Müllsammlung ermöglicht Experten zufolge eine gründlichere Analyse.

Der 48-Jährige Kang Dong Wan zieht aus dem Müll Rückschlüsse auf die Lage in Nordkorea.
Der 48-Jährige Kang Dong Wan zieht aus dem Müll Rückschlüsse auf die Lage in Nordkorea.
Keystone

Und manche der Einblicke sind geradezu faszinierend. Angaben über die Zutaten auf manchen Saftbeuteln zeigen beispielsweise, dass Nordkorea Blätter von Bäumen als Ersatz für Zucker benutzt. Kang, der auch ein Buch über seine Arbeit geschrieben hat, vermutet, dass das Land unter einem Mangel an Zucker und Maschinen zur Zuckerverarbeitung leidet.

Und die Entdeckung von mehr als 30 Arten von Verpackungen künstlicher Geschmacksverstärker könnte bedeuten, dass sich die nordkoreanischen Haushalte keine teureren natürlichen Zutaten wie Fleisch und Fisch zum Kochen koreanischer Suppen und Eintopfgerichte leisten können. Viele Südkoreaner verwenden derartige künstlichen Zutaten wegen Gesundheitsbedenken nicht mehr.

Putzen ist Frauenarbeit

Plastiktüten für Waschmittel tragen Aufschriften wie «Der Freund der Hausfrauen». Weil dem offensichtlich die Annahme zugrunde liegt, dass nur Frauen für das Putzen und Waschen zuständig sind, könnte das deren Status in der von Männern dominierten nordkoreanischen Gesellschaft widerspiegeln.

Professor Wan sammelt auf der Inselgruppe Yeonpyeong im Dezember 2021 sein Arbeitsmaterial.
Professor Wan sammelt auf der Inselgruppe Yeonpyeong im Dezember 2021 sein Arbeitsmaterial.
Keystone

Auf manchen Verpackungen sind hochtrabende Behauptungen zu lesen. Auf einer steht, dass ein kleiner Kuchen mit Walnussgeschmack eine bessere Quelle von Protein sei als Fleisch. Laut einer anderen fördert Kollagen-Eiscreme das Wachstum von Kindern, lässt sie grösser werden. Kang ist freilich nicht in der Lage, die Qualität des früheren Inhalts der Verpackungen in seinem Müll zu verifizieren.

Nordkoreanische Snacks und Kekse sind in den vergangenen Jahren generell weicher und geschmackvoller geworden. Aber ihre Qualität hinkt weiter hinter der von Südkoreas international wettbewerbsfähigen Produkten zurück, wie Jeon Young-Sun von der Konkuk-Universität in Seoul sagt.

«Steinharte» Süsswaren

Noh Hyung-Jeong, eine Überläuferin aus Nordkorea, erzählt, dass sie «begeistert» vom südkoreanischen Brot und dem Kuchen war, die sie nach ihrer Ankunft 2007 hier ass. Die Süsswaren, die sie in Nordkorea hatte, beschreibt sie als oft bitter und «steinhart».Kangs sieht sein Müllsammeln als Versuch, die Menschen in Nordkorea besser zu verstehen und zu studieren, wie die Kluft zwischen den beiden Koreas im Fall einer etwaigen künftigen Vereinigung überbrückt werden könnte.

Leicht ist seine Aktion auf den 4 bis 20 Kilometer vom nordkoreanischen Territorium entfernten Inseln nicht. Manchmal wurde er von südkoreanischen Soldaten vernommen, weil Einwohner sein Sammeln verdächtig fanden. Ab und zu strandete er, weil der Fähren-Service wegen schlechten Wetters unterbrochen werden musste. Und dann gab es Zeiten, in denen er völlig frustriert war, weil er keinen nordkoreanischen Müll fand.

«Aber ich war ermutigt, als ich mehr und mehr Abfall sammelte... und ich war entschlossen herauszufinden, wie viele Waren es in einem Land gibt, in das wir nicht gehen können», so Kang. «Wenn der Wind bläst und die Wellen hoch sind, wird immer etwas angeschwemmt, und dann war ich so glücklich, weil ich etwas Neues finden konnte.»   

Von Hyung-Jin Kim, AP