Sorge vor Eskalation Wie sich der Iran mit Raketen an Israel rächen will

dpa / tmxh

17.1.2024 - 00:00

Iranische Garden greifen «israelische Spionagezentren» im Irak an

Iranische Garden greifen «israelische Spionagezentren» im Irak an

STORY: Die iranischen Revolutionsgarden haben nach eigenen Angaben Stützpunkte des israelischen Geheimdienstes Mossad in der halbautonomen Region Kurdistan im Irak angegriffen. Laut den iranischen Garden wurden ballistische Raketen eingesetzt, um, Zitat, «Spionagezentren anti-iranischer Terrorgruppen in der Region zu zerstören». Der Sicherheitsrat der kurdischen Regierung erklärte, dass bei den Angriffen mindestens vier Zivilisten getötet und sechs verletzt worden seien. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte die Berichte zunächst nicht von unabhängiger Seite überprüfen. Israelische Regierungsvertreter waren zunächst nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Der Iran hat in der Vergangenheit immer wieder Anschläge in der nordirakischen Region Kurdistan verübt und behauptet, die Orte würden als Aufmarschgebiet für iranische Separatistengruppen dienen sowie für Agenten des Erzfeindes Israel.

16.01.2024

Raketenangriffe von iranischem Boden auf Ziele in Syrien und Irak markieren eine neue Dimension des Konflikts in Nahost. Experten sehen keine neue Eskalation, warnen jedoch vor einer besonderen Gefahr.

17.1.2024 - 00:00

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Inmitten der Spannungen in Nahost haben die selbsternannten Revolutionswächter (IRGC) im Iran zahlreiche Raketen auf Ziele im Irak und Syrien abgefeuert.
  • Die Angriffe seien Vergeltung unter anderem für die jüngsten Terroranschläge im Iran sowie die Tötung eines hochrangigen IRGC-Offiziers Ende Dezember.
  • Experten und Beobachter sind der Meinung, dass die Welt gegenwärtig einen gefährlichen Schattenkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten, Israel und dem Iran erlebt.

Mit Sorge blickt die Welt auf den Iran: Die selbsternannten Revolutionswächter (IRGC) haben inmitten der Spannungen in Nahost zahlreiche Raketen auf Ziele im Irak und Syrien abgefeuert.

In der Nacht, als erstmals seit Beginn des Gaza-Kriegs Raketen von iranischem Staatsgebiet abgefeuert wurden, ist die Sorge vor einer Eskalation so präsent wie nie zuvor. Die wichtigsten Fragen zum Thema.

Warum feuerte der Iran Raketen ab?

Die Angriffe mit zwei Dutzend Raketen seien Vergeltung unter anderem für die jüngsten Terroranschläge im Iran sowie die Tötung eines hochrangigen IRGC-Offiziers Ende Dezember, teilte das IRGC-Webportal mit. «Wir versichern unserem geliebten Volk, dass die Offensivoperationen der Revolutionsgarde so lange fortgesetzt werden, bis auch der letzte Tropfen Blut der Märtyrer gerächt ist», hiess es in einer Erklärung.

Die iranische Nachrichtenagentur Tasnim veröffentlichte ein Video, in dem mehrere ballistische Raketen aufsteigen und den nächtlichen Himmel kurz zum Leuchten bringen. «Als Reaktion auf die jüngsten terroristischen Verbrechen der Feinde des islamischen Iran wurden Spionagezentralen und Versammlungen antiiranischer Terrorgruppen (...) angegriffen und zerstört», lautet eine erste IRGC-Mitteilung.

Wo schlugen die Raketen ein?

In der nordirakischen Metropole Erbil schlugen Raketen ein, die mindestens vier Menschen töteten. Das Ziel beschrieb Irans Revolutionsgarde als Spionagezentrale des israelischen Geheimdienstes Mossad. Ein bekannter Geschäftsmann soll unter den Opfern sein, dem laut iranischen Medienberichten Verbindungen zu Israel unterstellt werden. In Syrien wurden nach Darstellung von Staatsmedien vor allem Extremisten und Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der Provinz Idlib attackiert.

Bei dem Angriff handelte es sich mit einer Strecke von mehr als 1200 Kilometern um die bisher weitreichendste Raketenoperation des Landes. Dies dürfte auch ein klares Signal an den Erzfeind Israel sein. Es wäre in etwa die gleiche Entfernung, die Raketen vom Westen des Landes aus benötigen, um Tel Aviv oder Jerusalem zu erreichen.

Der Iran griff nach eigenen Angaben Ziele auch im Nachbarland Pakistan mit Drohnen und Raketen an. Die Attacke habe der islamistischen Separatistengruppe Dschaisch al-Adl gegolten, berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasnim auf Telegram. Zwei wichtige Stützpunkte der Extremisten seien zerstört worden. Die sunnitische Gruppe hatte im Südostiran mehrere Anschläge für sich reklamiert.

Dschaisch al-Adl kämpft nach eigenen Angaben für Unabhängigkeit in der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan. Die meisten Bewohner der Provinz folgen der sunnitischen Strömung des Islam, im Gegensatz zur schiitischen Staatsreligion. Immer wieder gibt es Konflikte zwischen den beiden islamischen Strömungen. Die USA und der Iran haben die Gruppe als Terrororganisation eingestuft.

Spitzt sich die Lage in der Region weiter zu?

Mehr als drei Monate nach Beginn des Gaza-Kriegs nehmen die Spannungen in der Region immer weiter zu. Während Israels Armee nach intensiven Gefechten allmählich Kampfverbände aus dem Küstenstreifen abzieht, droht an der Grenze im Norden mit der libanesischen Hisbollah-Miliz seit Monaten die Lage jederzeit zu eskalieren.

Auch die Situation am Roten Meer und im Jemen schürt Sorgen, seitdem die militant-islamistischen Huthi Schiffe auf der wichtigen Seeroute nach Israel attackieren. Die USA reagierten bereits mit Luftangriffen auf Stellungen der Huthi-Miliz, von denen sich die Miliz bisher unbeeindruckt zeigte. Die Huthi sowie die Hisbollah sind eng mit dem Iran verbunden.

Experten und Beobachter sind der Meinung, dass die Welt gegenwärtig einen gefährlichen Schattenkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten, Israel und dem Iran erlebt. Dessen Staatsführung hatte kurz nach der Terrorattacke der islamistischen Hamas am 7. Oktober auf Israel den Angriff als Akt des Widerstands gelobt, eine direkte Verstrickung aber vehement zurückgewiesen.

Stattdessen attackierten mit dem Iran verbündete schiitische Milizen in der Region sowohl im Irak als auch Syrien mehrfach US-Stützpunkte. Teheran bekräftigt, keine Befehle zu erteilen. Die Gruppen agierten vielmehr autonom, sagte Irans Aussenminister Hussein Amirabdollahian zuletzt.

Zielt der Iran auf eine Eskalation?

Die iranische Staatsführung stand nach Einschätzung von Experten angesichts eines verheerenden Terroranschlags am Todestag Soleimanis in dessen Heimatstadt Kerman und nach der Tötung Mussawis unter Druck. Trotzdem habe auch der Raketenangriff nicht auf eine komplette Eskalation gezielt. Sina Azodi von der George Washington University sagte dem arabischen Sender Al-Dschasira, dass die Raketenangriffe kein Zeichen für eine neue regionale Eskalation seien.

«Die Iraner haben wiederholt erklärt, dass sie nicht an einer Eskalation des Konflikts interessiert sind. Aber ich denke, solange der Konflikt in Gaza andauert, werden wir solche Aktionen sehen», sagte der Experte. «Meine grösste Sorge ist, dass es bei einem dieser Angriffe Opfer geben könnte, auch in den USA, was die Vereinigten Staaten zu einer Reaktion zwingen würde, und dann könnte es eskalieren, ohne dass irgendjemand wirklich einen Krieg will.»

Wie blickt Israel auf das Geschehen im Iran?

Mit Sorge blicken israelische Politiker seit Jahren auf bedrohliche Töne der Staatsführung in Teheran, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht abspricht. Erst kurz vor dem Überfall der Hamas hatte Irans Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei alte Drohungen gegen Israel bekräftigt und den Staat als Krebsgeschwür bezeichnet.

Neben der Bedrohung durch ein massives Raketen- und Drohnenarsenal fürchtet Israel auch Irans umstrittenes Atomprogramm. Die USA hatten Teheran immer wieder unterstellt, nach Nuklearwaffen zu streben. Der Iran bestreitet die Vorwürfe und beteuert, dass Massenvernichtungswaffen unvereinbar mit dem Islam seien.

Welche Operationen gegen den Iran gab es?

Seit der Revolution von 1979 gelten die USA und Israel als Erzfeinde der Islamischen Republik. Vor allem die Revolutionswächter haben daher unter ihren Generälen den Einfluss in der Region ausgebaut. Einen der mächtigsten Generäle, Ghassem Soleimani, liessen die USA vor vier Jahren durch einen gezielten Drohnenangriff in Bagdad töten. Bis heute wird der frühere Kommandeur der IRGC-Auslandseinheit unter loyalen Systemanhängern als Märtyrer verehrt.

Ende Dezember wurde bei einem mutmasslich israelischen Luftangriff in Syrien ein iranischer Brigadegeneral getötet, ein Vertrauter Soleimanis, der laut Informationen der «New York Times» Waffenlieferungen an die libanesische Hisbollah-Miliz überwacht haben soll. General Sejed-Rasi Mussawi stand nicht in der Öffentlichkeit, dennoch markierte seine Ermordung einen Rückschlag für die IRGC. Die militärische Führung Irans schwor Israel Rache.

Warum sucht der Iran nichtstaatliche Verbündete?

Nichtstaatliche Verbündete sind für Irans Machtausbau und Machterhalt auch wichtig, weil der erklärte Erzfeind Israel stärker in die Region hineinwächst. Bahrain, Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre Beziehungen mit Israel in den vergangenen Jahren normalisiert. Erste Gespräche über solch einen Schritt führte unter US-Vermittlung auch Saudi-Arabien. Die Gespräche wurden nach Beginn des Gaza-Kriegs ausgesetzt. Riad hat aber weiter Interesse an solch einer Einigung, die sich vor allem gegen den Iran sowie China richten würde.

Auch Teheran hatte seine Beziehungen zu Saudi-Arabien im Jahr 2023 nach Jahren diplomatischer Eiszeit normalisiert – nach einer ersten Euphorie hat sich die Stimmung aber deutlich abgekühlt. Der Iran habe mit der «kühl kalkulierten» Einigung beweisen wollen, dass das Land regional nicht isoliert ist, sagte Expertin Barbara Slavin von der US-Denkfabrik Stimson Center im vergangenen Herbst. Saudi-Arabien wiederum wolle beim Versuch, seine ehrgeizigen Wirtschaftsziele zu erreichen, vom Iran eine «Versicherung gegen Angriffe von aussen».

dpa / tmxh