Starke einheimische Waffenindustrie So trotzt die Ukraine der nachlassenden Hilfe aus dem Westen

Von Hanna Arhirova, AP

27.3.2024 - 23:44

Aus dem Westen vermisst die Ukraine zunehmend Hilfe, weshalb sie die eigene Waffenindustrie gezielt fördert.
Aus dem Westen vermisst die Ukraine zunehmend Hilfe, weshalb sie die eigene Waffenindustrie gezielt fördert.
Bild: Oleksandr Ratushniak/AP/dpa

Westliche Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen die russischen Angreifer hat nachgelassen. Mehr Waffen und Munition werden dringender benötigt denn je. Also versucht die Ukraine, sich verstärkt selbst zu helfen.

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  • 1,3 Milliarden Euro veranschlagt die Ukraine 2024 für den Kauf und die Entwicklung von Waffen – 20 mal mehr als bei Ausbruch des Krieges mit Russland.
  • Die erhöhten Ausgaben sind auch eine Reaktion auf die zunehmend schleppende Hilfe aus Europa und den USA.
  • Obwohl ukrainische Unternehmen die Produktion hochfahren und sich Drohnen-Start-ups zuletzt verdreifachten, wirken bürokratische Hürden und Personalmangel als Hemmschuh.

Die Ukraine benötigt jeden auch noch so winzigen Vorteil, den sie erhalten kann, um die russischen Angreifer zurückzudrängen. Ein aufkommender Lichtblick ist die kleine, aber schnell wachsende Verteidigungsindustrie des Landes. Die Regierung pumpt viel Geld viel in sie, um die einheimische Produktion von Waffen und Munition voranzutreiben.

Diese Bestrebungen haben sich im Laufe des vergangenen Jahres massiv verstärkt, da die USA und Europa Mühe haben, weiter Waffen und andere Hilfsmittel an die Ukraine zu liefern. Kiew hat im Haushalt 2024 umgerechnet etwa 1,3 Milliarden Euro für den Kauf und die Entwicklung von Waffen daheim eingeplant – 20 mal mehr als vor Beginn des russischen Angriffskrieges vor gut zwei Jahren.

Und: Ein grosser Teil dieser Ausrüstung kommt von neu entstandenen Fabriken im Privatbesitz, die zusehends eine Industrie übernehmen, die von staatseigenen Unternehmen dominiert wurde. 

Neue Mörserfabrik produziert monatlich 20'000 Granaten

So stellt eine 2023 eröffnete private Mörserfabrik in der westlichen Ukraine jetzt monatlich etwa 20'000 Granaten her. «Ich habe das Gefühl, dass wir unser Land näher an den Sieg bringen», sagt Anatoli Kusmin, der Besitzer, der nach Kriegsbeginn aus seiner Heimat im Süden des Landes geflohen war und früher landwirtschaftliche Ausrüstung hergestellt hat. 

Für die Ukraine könnte nicht mehr auf dem Spiel stehen. Russland kontrolliert fast ein Viertel des Landes und hat seine Bereitschaft demonstriert, grosse Soldatenzahlen an der 1000 Kilometer langen Frontlinie einzusetzen, um auch nur die kleinsten Fortschritte zu erzielen. Die ukrainischen Truppen geraten zunehmend ins Hintertreffen, sowohl in ihrer Personalstärke als auch Bewaffnung.

«Du brauchst einen Mörser nicht in drei Jahren, du brauchst ihn jetzt, vorzugsweise gestern», sagt Taras Tschmut von der Organisation Come Back Alive Foundation, die in den vergangenen zehn Jahren umgerechnet mehr als 240 Millionen Euro zur Ausrüstung ukrainischer Soldaten gesammelt hat.

Ukrainische Waffenindustrie liegt zu 80 Prozent in Privathand

Kusmin floh 2022 aus seiner Stadt Melitopol, nach dem Einmarsch der Russen und ihrer Beschlagnahme seiner damaligen Fabrik. Schon seit der illegalen russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014 hatte er nebenher an der Entwicklung eines Mörsergranaten-Prototyps gearbeitet. Im vergangenen Winter übernahm er ein grosses Lagerhaus in der westlichen Ukraine, und sein langfristiges Ziel ist es unter anderem, 100'000 Mörsergranaten im Monat zu produzieren und Maschinen sowie Sprengstoffe zur Bewaffnung von Drohnen zu entwickeln.

Er ist einer von vielen Unternehmern, die die ukrainische Waffenindustrie verändern. Sie ist heute schon zu 80 Prozent in privaten Händen – ein krasser Gegensatz zu Russlands staatlich kontrollierter Militärindustrie.

Jede neu hergestellte Projektil wird in Packpapier gewickelt und in Holzkisten verstaut, um dann zum Beladen mit Sprengstoff nach Rumänien oder Bulgarien befördert zu werden. Nach mehreren Wochen werden die Granaten zurückgeschickt und an die Front gebracht.

US-Hilfspaket lässt auf sich warten, Hilfe aus Europa auch

Die ukrainischen Ausgabensteigerungen für die inländische Produktion erfolgen vor dem Hintergrund, dass ein von der Washingtoner Regierung beantragtes Hilfspaket im Umfang von umgerechnet gut 54 Milliarden Franken im US-Kongress festhängt und europäische Staaten Mühe haben, genug Munition zu liefern. Die Transformation des ukrainischen Verteidigungssektors ist zwar beeindruckend.

Doch das Land hat ohne massive westliche Unterstützung keine Chance, die Russen zu schlagen, wie etwa Trevor Taylor von der Londoner Denkfabrik Royal United Serces Institute sagt. Dass die umfassenden weiteren US-Hilfen bislang ausgeblieben seien, «erweist sich wirklich als ein wesentliches Hindernis».

Hinzu kommt, dass Russland selbst mehr Geld in seine Militärindustrie pumpt, deren Wachstum die Wirtschaft zugleich vor der vollen Wucht der Auswirkungen westlicher Sanktionen abgefedert hat. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu prahlte kürzlich mit einer grossen Zunahme der Produktion von Panzern, Drohnen und Munition. «Das ganze Land ist aufgestanden und arbeitet für unseren Sieg», sagte er.

Sergej Schoigu, Russlands Verteidigungsminister, lobte kürzlich die erhöhten Produktionskapazitäten hinsichtlich Panzer, Drohnen und Munition.
Sergej Schoigu, Russlands Verteidigungsminister, lobte kürzlich die erhöhten Produktionskapazitäten hinsichtlich Panzer, Drohnen und Munition.
Bild: Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Auf ukrainischer Seite werden im Vergleich zum vergangen Jahr jetzt  40 Prozent mehr Mörsergranaten hergestellt, und die Produktion von Artilleriemunition hat sich fast verdreifacht, wie Oleksandr Kamyschin, der ukrainische Minister für strategische Industrien, berichtet. Es hat auch einen Boom von Drohnen-Startups gegeben.

Die Regierung umgerechnet etwa 900'000 Franken für die Technologie bereitgestellt – zusätzlich zum Verteidigungshaushalt. «Wir produzieren jetzt in einem Monat, was wir früher in einem Jahr produziert haben», hebt auch Wladislaw Belbas hervor, der Generaldirektor des Unternehmens Ukrainian Armor, das eine Vielfalt von Militärfahrzeugen herstellt. 

Dennoch sind inländische Waffenfabriken mit grossen Herausforderungen konfrontiert – von den sich ändernden Bedürfnissen auf dem Schlachtfeld bis hin zu ihrer eigenen Verwundbarkeit für russische Raketenangriffe. Und dann ist da ein erheblicher Personalmangel. Jaroslaw Dsera, der eine der Fabriken von Ukrainian Armor managt, schildert beispielsweise, dass er Mühe habe, qualifizierte Arbeiter anzuheuern und zu halten – nicht zuletzt, weil viele von ihnen an der Front eingesetzt werden.

Bürokratie als Hemmschuh im Kriegsgeschehen

Das Wachstum der ukrainischen Verteidigungsindustrie wird ausserdem notorisch durch zu viel Bürokratie behindert. Die Regierung ist zwar seit Kriegsbeginn um mehr Effizienz bemüht, etwa darum, die Prozeduren bei der Auftragsvergabe transparenter zu machen, aber der Sektor leidet weiter unter vielen Regulierungen und einem Mangel an Wettbewerb, wie Walerij Saluschnyj in einem Essay für den US-Nachrichtensender CNN schrieb, bevor er von Präsident Wolodymyr Selenskyj als Topgeneral der ukrainischen Streitkräfte ausgewechselt wurde.

Eine Erfolgsgeschichte ist die Drohnenindustrie. Inländisch hergestellte Schwimmdrohnen haben sich als eine wirksame Waffe gegen Russlands Schwarzmeerflotte erwiesen. Es gibt jetzt 200 einheimische Unternehmen im Land, die sich auf Drohnen konzentrieren, und offiziellen Angaben zufolge wurden im vergangenen Dezember 50 Mal mehr ausgeliefert als im selben Zeitraum 2022.

Von Hanna Arhirova, AP