Fragen und Antworten Was bedeutet Russlands Einmarsch und was folgt daraus?

Von Philipp Dahm

22.2.2022

Putin schickt Truppen in die Ukraine

Putin schickt Truppen in die Ukraine

Russland erkennt die abtrünnigen ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk als unabhängig an und entsendet «Friedenstruppen» in die Separatistengebiete.

22.02.2022

Wladimir Putin schockiert die Welt: Die Entscheidung, die abtrünnigen Bezirke in der Ostukraine anzuerkennen, droht, einen Flächenbrand auszulösen. Wie es dazu kam und wie es weitergeht, erfährst du hier.

Von Philipp Dahm

22.2.2022

«Ich halte es für notwendig, eine lange gereifte Entscheidung zu treffen: unverzüglich die Unabhängigkeit und Souveränität der Donezker Volksrepublik und der Luhansker Volksrepublik anzuerkennen», erklärt Wladimir Putin am Montagabend dem russischen Volk im Fernsehen.

Bereits in der Nacht sind erste russische Soldaten in die abtrünnigen ukrainischen Regionen einmarschiert, wie Augenzeugen berichten.

Das Vorgehen Russlands wird weitreichende Folgen für Europa und die ganze Welt haben. Wie es so weit kommen konnte und wie es nun weitergeht, klärt blue News in sechs Fragen und Antworten.

Wie rechtfertigt Putin den Affront gegen Kiew?

Putin wirft der Ukraine schon seit Langem vor, das Abkommen von Minsk nicht einzuhalten. Es geht dabei vor allem darum, dass den Regionen Luhansk und Donezk eine weitergehende Autonomie zugestanden und Wahlen abgehalten werden sollten.

Separatisten feiern am 21. Februar in Donezk die Entscheidung Putins, die abtrünnigen Regionen anzuerkennen.
Separatisten feiern am 21. Februar in Donezk die Entscheidung Putins, die abtrünnigen Regionen anzuerkennen.
AP

Zuletzt kamen neue Vorwürfe hinzu: Kiew soll Zivilisten im Donbass mit Artillerie beschiessen. Die Gegenseite hingegen beschuldigt die Separatisten, dies zu tun. Die OSZE hat tatsächlich über das Wochenende eine starke Zunahme der Brüche der Waffenruhe verzeichnet. Die Beobachter sehen allerdings beide Seiten in der Verantwortung.

Ausserdem führte Putin in seiner Rede am Montagabend angebliche Sabotage-Akte ins Feld: Am Montag sollen fünf ukrainische Soldaten getötet worden sein, die Anschläge hinter feindlichen Linien geplant hätten. Was stutzig macht: Die Saboteure sollen mit zwei Schützenpanzern ins Separatisten-Gebiet eingedrungen sein. Wenn das wahr wäre, wären die Störkräfte bei ihrer Aktion ziemlich ungeschickt vorgegangen.

Wie ist die Entscheidung zustande gekommen?

Es ist eine Eskalation mit Ansage: Nachdem sich die Kämpfe in den abtrünnigen Regionen intensiviert haben, evakuierten die Separatisten zuerst einige Bewohner nach Russland. Damit waren offenbar nicht alle Menschen einverstanden, wie Reporter nahelegen, die mit ihnen sprechen konnten.

Bewohner, die – gewollt oder auch nicht – aus den Regionen Donetsk und Luhansk evakuiert worden sind, werden in einer Turnhalle in Taganrog auf der russischen Seite untergebracht.
Bewohner, die – gewollt oder auch nicht – aus den Regionen Donetsk und Luhansk evakuiert worden sind, werden in einer Turnhalle in Taganrog auf der russischen Seite untergebracht.
AP

Anschliessend haben die Separatisten erst mobilisiert – und dann Moskau um militärische Hilfe gebeten. Parallel dazu haben einige Duma-Abgeordnete eine Aufforderung an Wladimir Putin verfasst, er solle die «Volksrepubliken» anerkennen. Sie wurde Putin vergangene Woche übergeben: Der Kreml reagierte zuerst mit der Aussage, die Duma präsentiere den Willen des Volkes.

All diese Ereignisse haben dazu geführt, dass Putin am Montag seinen Sicherheitsrat zusammengerufen hat. In einer bizarren Sitzung, die im TV zu sehen war, liessen die Beteiligten kein gutes Haar an der Ukraine, der Nato und insbesondere den USA. Kurz nach dem Treffen wurde eine Rede des Präsidenten an die Nation angekündigt, in der Putin schliesslich die Anerkennung von Donezk und Luhansk in Aussicht stellte.

Sonderbare Sitzung des russischen Sicherheitsrats, die am Montag im TV als live verkauft worden,  tatsächlich aber aufgezeichnet war: Jeweils eines der Mitglieder (rechts) tritt an das Pult in der Mitte, während Putin (links) zuhört. Der Tenor: Für die Ukraine sind Luhansk und Donezk bloss Territorien, für Russland eine Herzensangelegenheit. Und: Die USA wollen Russland zerstören. Mehr dazu hier.
Sonderbare Sitzung des russischen Sicherheitsrats, die am Montag im TV als live verkauft worden,  tatsächlich aber aufgezeichnet war: Jeweils eines der Mitglieder (rechts) tritt an das Pult in der Mitte, während Putin (links) zuhört. Der Tenor: Für die Ukraine sind Luhansk und Donezk bloss Territorien, für Russland eine Herzensangelegenheit. Und: Die USA wollen Russland zerstören. Mehr dazu hier.
EPA

Und was bedeutet die Anerkennung konkret?

US-Aussenminister Anthony Blinken nannte den Vorgang einen «klaren Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine»: Mit der einseitigen Anerkennung abtrünniger Regionen spricht ein Land dem anderen ab, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden.

Weiter sagte Blinken, der Schritt stünde im direkten Widerspruch zu Russlands «behauptetem Bekenntnis zur Diplomatie». Moskau hat sich stets auf seine Verhandlungsbereitschaft, die Umsetzung des Minsker Abkommens und Gespräche im Normandie-Format berufen.

Das Minsker Abkommen soll eine Waffenruhe, aber auch die territoriale Integrität der Ukraine garantieren. Mit der einseitigen Anerkennung der «Volksrepubliken» ist das jedoch augenscheinlich hinfällig. Die Normandie-Runde war das einzige Format, in dem Moskau und Kiew unter der Schirmherrschaft von Paris und Berlin direkt miteinander geredet haben. Doch die Normandie-Gespräche sind nach Putins Aussagen gestorben.

Wie geht es jetzt am Boden weiter?

Das ist natürlich schwer vorherzusagen, doch die Anerkennung türmt einen Berg von Problemen auf. Fakt ist, dass Putin bereits «Friedenstruppen» entsandt hat. Das Beunruhigende ist, dass die russischen Soldaten nicht nur auf das Grenzgebiet zu Luhansk und Donezk vorrücken, sondern sich auch nahe der zweitgrössten ukrainischen Stadt Charkiw sammeln, die mit den abtrünnigen Republiken nichts zu tun hat.

Doch selbst wenn Russland nicht bei Charkiw, sondern in den «Volksrepubliken» den Rubikon überschreitet, ist eine weitere Eskalation programmiert: Die Separatisten besetzen in den Regionen nur knapp die Hälfte des Gebiets, während der Rest nach wie vor von Ukrainern kontrolliert wird, wie die untenstehende OSZE-Karte zeigt.

Wie weit werden die «Friedenstruppen» in dieses Gebiet eindringen? Werden sie versuchen, die Frontlinie (auf der Karte rot) zu halten? Oder werden sie die Ukrainer zurückdrängen, wie es am Montag der russische Innenminister Wladimir Kolokolzew angedeutet hat? Der sprach davon, dass auch Mariupol am Schwarzen Meer Teil des anerkannten Gebiets sei – und diese Stadt wird nicht von den Rebellen beherrscht.

Und was ist auf politischer Bühne zu erwarten?

Hier ist das Prozedere hingegen klar. Auf russischer Seite geht es heute nur noch um «Formalitäten»: Putin hat die Anerkennung wiederum an die Duma zurückverwiesen, die diese heute vollziehen wird. Gleichzeitig soll das russische Parlament «Freundschaftsverträge» mit den Republiken abschliessen.

Sie werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch militärische Abkommen einschliessen: Dabei wird bereits kolportiert, Russland plane den Aufbau einer neuen Basis nahe Donezk.

Update 12.22 Uhr: Die russische Staatsduma hat die Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine als unabhängige Staaten ratifiziert. Die Abgeordneten unterstützten am Dienstag in einer Sitzung einstimmig die Verträge über «Freundschaft und Beistand» mit den prorussischen Separatistengebieten, wie die Agentur Interfax meldete. Zuvor hatten bereits die Aufständischen in der Ostukraine ihrerseits den Verträgen bei getrennten Parlamentssitzungen zugestimmt.

Der Westen wird gleichzeitig diverse Sanktionen verabschieden, deren Auswirkungen auf die russische Ökonomie kaum abzusehen sind. Was dagegen jetzt schon feststeht, ist, dass die gesamte Weltwirtschaft von der Krise getroffen wird: Während die Börsen abtauchen, schiessen die Energiepreise in die Höhe.

Was sind die Folgen für die Wirtschaft?

Um 10:15 Uhr ist der SMI 1,04 Prozent im Minus, der Dax verliert 1 Prozent, der Dow Jones 0,68 Prozent , Japans Nikkei 1,7 Prozent und der russische Moex-Index sackte um 10,5 Prozent ab. Der Rubel hat gegenüber dem Dollar 3,3 Prozent an Wert verloren.

Gleichzeitig zieht der Ölpreis an: Am Morgen kostete ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent 97.63 US-Dollar. Das waren 2.24 Dollar mehr als am Vortag. Zwischenzeitlich erreichte der Preis für diese Sorte den höchsten Stand seit 2014. Der Preis für ein Fass der amerikanischen Sorte WTI zog um 3.60 Dollar auf 94.67 Dollar an.

Was jetzt bereits klar ist: Diese Krise wird die Preise für Energie verteuern – und das betrifft auch die Schweiz, die Strom auf dem europäischen Markt einkauft. Weil Öl und Gas teurer werden, wird die Produktion etwa in deutschen Gaskraftwerken spürbar teurer. Den Aufschlag müssen dann auch Schweizer Kunden mitzahlen.