Behörden sorgen vor Wie gefährlich ist es, wenn Putin Atomkraftwerke angreift?

Von Andreas Fischer

4.3.2022

Ukraine: Keine Strahlung nach Kämpfen auf AKW-Gelände

Ukraine: Keine Strahlung nach Kämpfen auf AKW-Gelände

STORY: Über eine Woche dauern die Kämpfe nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine nun bereits an. In der Nacht zu Freitag wurden Gefechte auf dem Gelände von Europas grösstem Atomkraftwerk Saporischschja gemeldet. Ein Feuer war ausgebrochen. Konnte aber wieder gelöscht werden. Dazu der Direktor der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA), Rafael Mariano Grossi am Freitag in Wien: O-TON GENERALDIREKTOR IAEA, RAFAEL GROSSI: «Über Nacht traf ein Projektil ein Gebäude auf dem Werksgelände. Dieses Gebäude, ich muss es wiederholen, ist kein Teil des Reaktors. Es ist kein Reaktorblock. Es ist eine an die Reaktoren angrenzende Anlage mit Gebäuden. Es wurde ein örtlich begrenztes Feuer verursacht, das gelöscht wurde.» Das russische Verteidigungsministerium machte für den Angriff auf das Atomkraftwerk «ukrainische Saboteure» verantwortlich. Erhöhte Radioaktivität wurde nach ukrainischen Behördenangaben nicht registriert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich in einer Fernsehansprache direkt an die russische Bevölkerung gewandt und sie zum Protest gegen den Angriff auf das AKW Saporischschja und die Einnahme der Anlage aufgerufen. Selenskyj betonte, dass nur eine Flugverbotszone über seinem Land sicherstellen könnte, dass das russische Militär keine Atomanlagen bombardiere. Russland ziele absichtlich auf die Infrastruktur und Wohngebiete in der Ukraine. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Aussagen zurzeit nicht. Allerdings zeigen viele Aufnahmen und Zeugenaussagen, dass sich die Lage in der Ukraine immer weiter verschärft.

04.03.2022

Dass Russland im Krieg gegen die Ukraine auch Atomkraftwerke angreift, birgt unkalkulierbare Risiken – auch für Europa. Eine unmittelbare Gefahr für die Schweiz besteht derzeit aber nicht.

Von Andreas Fischer

4.3.2022

36 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl brannte in der Ukraine ein Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja. Das Ausmass der Schäden ist noch immer unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss der Reaktorblöcke durch russische Panzer.

Nach dem russischen Angriff auf die Reaktoranlage ist nach UN-Angaben bislang keine radioaktive Strahlung ausgetreten. Der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Mariano Grossi, sagte am Freitag, ein russisches Geschoss habe ein Trainingsgebäude auf dem Gelände getroffen. Ein Reaktor sei nicht betroffen. Der Brand ist inzwischen gelöscht.

Der Angriff in der Nacht zum Freitag in Europas grösstem Atomkraftwerk erinnerte an die Atomkatastrophe, die sich 1986 in Tschernobyl nahe der heutigen ukrainisch-belarussischen Grenze ereignete. Selenskyj sagte in der Nacht zum Freitag: «Wenn es eine Explosion gibt, ist das das Ende für alle. Das Ende für Europa. Die Evakuierung von Europa.»

Sollte es in der Ukraine infolge von militärischen Angriffen auf zivile Atomanlagen wieder zu einem GAU kommen, sind die Folgen allerdings völlig offen. Die IAEA will daher mit Russland und der Ukraine Sicherheitsgarantien für ukrainische Atomanlagen aushandeln.

Europas grösstes Atomkraftwerk Saporischschja ist nach Beschuss durch russische Invasionstruppen teilweise in Brand geraten und hat Befürchtungen vor einer Reaktorkatastrophe geweckt.
Europas grösstes Atomkraftwerk Saporischschja ist nach Beschuss durch russische Invasionstruppen teilweise in Brand geraten und hat Befürchtungen vor einer Reaktorkatastrophe geweckt.
Uncredited/AP/dpa

Wie gut sind Atomkraftwerke vor militärischen Angriffen geschützt?

Die Reaktoren selbst seien «recht gut geschützt», glaubt Expertin Astrid Sahm, wie sie der «Wirtschaftswoche» mitteilt. Ein Beschuss würde «nicht so leicht» zu einem Super-GAU führen. Die Reaktoren werden anders als der in Tschernobyl durch dicke Betonkuppeln geschützt. Diese hätten auch Beschuss durch Panzer und Artillerie standgehalten, sagt Jon Wolfsthal, der unter der Regierung von US-Präsident Barack Obama im Nationalen Sicherheitsrat gearbeitet hat. Es sei allerdings nie gut, wenn es in einem Atomkraftwerk brenne.

Zudem gibt es radioaktives Material nicht nur im Reaktor. Verbrauchte Brennstäbe werden in Abklingbecken gekühlt. Auch diese könnten radioaktives Material freisetzen. Sie sind aber nicht so gut vor Beschuss geschützt wie der Reaktor selbst.

Risikoforscher Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien ist «sehr beunruhigt», wie er dem ORF sagt. Schliesslich gebe es keinen Präzedenzfall für die militärische Übernahme eines Kernkraftwerkes. Kommt hinzu, dass die Sicherheitssysteme von Kernkraftwerken zwar für viele Naturgefahren gerüstet, aber nicht für einen militärischen Konflikt ausgelegt seien.

Was sind derzeit die grössten Gefahren für ukrainische Atomkraftwerke?

Der grösste Unsicherheitsfaktor bei weiteren Angriffen sind menschliche Fehler durch überlastete Mitarbeiter, die teilweise seit einer Woche im Einsatz sind. So stünden die ukrainischen Beschäftigten in Tschernobyl unter «psychologischem Druck und moralischer Erschöpfung», wie die IAEA mitteilte.

Ein grosses Risiko ist es zudem, wenn Brennstäbe nicht mehr gekühlt werden können, weil die Stromversorgung unterbrochen ist. «Das echte Problem ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern ein Schaden am Kühlungssystem. Das braucht man auch, wenn der Reaktor abgeschaltet ist. Es war diese Art von Schaden, der zum Unfall in Fukushima führte», schätzt David Fletcher von der Universität Sydney ein.

Seitdem habe es bei Kernkraftwerken zahlreiche technische Aufrüstungen gegeben, um die Wiederholung eines solchen Szenarios zu verhindern, sagte IAEA-Chef Rafael Mariano Grossi. Die 15 Reaktoren in den vier Kernkraftwerken der Ukraine sind in den letzten Jahren für 1,45 Milliarden Franken mit westlicher Technik modernisiert worden. Werde die Stromzufuhr dennoch gekappt, könne sich ein Kraftwerk sieben bis zehn Tage selbst versorgen.

Wie sicher ist die Schweiz, falls es in der Ukraine aufgrund des Krieges zu einem Störfall käme?

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) teilt mit, diese Frage zu prüfen. Für ein Gespräch stehe man derzeit aber nicht zur Verfügung. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) weist darauf hin, dass für die Schweizer Bevölkerung zurzeit keine weiteren Massnahmen erforderlich sind.

Gleichwohl hat die Behörde wegen zahlreicher Anfragen besorgter Bürgerinnen und Bürger aktualisierte Informationen zum Bevölkerungsschutz veröffentlicht. Darin weist sie darauf hin, dass in rund 365'000 privaten und öffentlichen Schutzräumen in der Schweiz rund neun Millionen Schutzplätze vorhanden sind.

Das musst du über Jodtabletten wissen

  • Jodtabletten kommen zum Einsatz, wenn zu viel radioaktives Jod in der Luft ist, etwa nach einem Störfall in einem AKW. Bei entsprechenden Messwerten wird die Einnahme auch bei einer Atomexplosion im Ausland angeordnet.
  • Jodtabletten sättigen die Schilddrüse mit nicht radioaktivem Jod. Dadurch verhindern sie, dass sich radioaktives Jod ansammelt und Schilddrüsenkrebs verursacht.
  • An alle Menschen, die sich regelmässig im Umkreis von 50 Kilometern zu einem der Schweizer Kernkraftwerke aufhalten, werden alle zehn Jahre Jodtabletten verteilt. Dies geschah zuletzt 2014. Damals wurden 4,9 Millionen Menschen versorgt. Wer seine Jodtabletten verloren oder verlegt hat, kann sie im Umkreis von 50 km um ein Schweizer Kernkraftwerk für fünf Franken in Apotheken und Drogerien nachkaufen.
  • Für die Bevölkerung in allen anderen Gebieten halten die Kantone ausreichend Jodtabletten vor, die innert zwölf Stunden ab Anordnung verteilt werden können.
  • Jodtabletten schützen nicht vor direkter radioaktiver Strahlung oder anderen radioaktiven Substanzen wie Cäsium und Strontium. Im Fall eines Nuklearereignisses gibt die Nationale Alarmzentrale (NAZ) Verhaltensanweisungen.

Zudem sei die Versorgung der Bevölkerung mit Jodtabletten für den Fall eines Nuklearereignisses sichergestellt. Alle Menschen im Umkreis von 50 Kilometer zu einem AKW bekommen ohnehin Jodtabletten von der Regierung. Für die übrige Bevölkerung halten die Kantone die entsprechenden Vorräte vor. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) warnte indessen davor, die Tabletten vorbeugend einzunehmen.

«Die Tabletten sind nur wirksam, wenn sie in einem geeigneten Zeitfenster eingenommen werden», heisst es in einer Mitteilung. Die Tabletten dürften nicht zu früh und nicht zu spät eingenommen werden. «Im Fall eines Ereignisses würde die Nationale Alarmzentrale (NAZ) die Einnahme von Jodtabletten anordnen», so das BAG. Dies geschehe bei einer Atomexplosion im Ausland auf Grundlage der Messergebnisse der Radioaktivität in der Luft.

Dafür betreibt die Nationale Alarmzentrale ein eigenes Messnetz. 76 in der ganzen Schweiz verteilte Sonden übermitteln alle zehn Minuten den aktuellen Messwert, erklärt das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Bei Überschreiten des festgesetzten Schwellwerts wird automatisch Alarm ausgelöst.

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA, AFP und dpa.