Ignazio Cassis «Die Welt wird nach diesem Krieg eine andere sein»

Von Alex Rudolf, Gil Bieler und Christian Thumshirn (Video)

4.3.2022

Cassis: «Ich verstehe die Sorgen in der Bevölkerung»

Cassis: «Ich verstehe die Sorgen in der Bevölkerung»

Der Ukraine-Krieg ruft Schweizer*innen die Atomwaffen-Bedrohung wieder in Erinnerung. Bundespräsident Ignazio Cassis will sich für Abrüstung einsetzen – und verwehrt sich gegen Kritik, die Schweiz habe die EU-Sanktionen zu zögerlich übernommen.

03.03.2022

«Die Ukrainer sind Europäer wie wir»: Bundespräsident Ignazio Cassis zeigt sich im Gespräch mit blue News tief betroffen von Russlands Angriff auf das Nachbarland. Er nimmt Stellung zu den Sanktionen, ordnet die Bedeutung der Ereignisse ein und verrät, wie er Wladimir Putin erlebt hat.

Von Alex Rudolf, Gil Bieler und Christian Thumshirn (Video)

4.3.2022

Herr Bundespräsident, 2022 sprechen wir in Europa wieder über die Bedrohung durch Atomwaffen. Wie real ist diese?

Präsident Wladimir Putin selbst hat dieses Szenario erwähnt. Bisher dienten Atomwaffen in der Regel als geostrategische Drohkulissen, vorwiegend nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir müssen hoffen, dass es auch hier bei einer Drohkulisse bleibt.

Viele Menschen haben Angst. Wie beruhigen Sie die Bevölkerung?

Indem die Schweiz  sicherstellt, dass wir uns als Nation für die Macht des Rechtes und nicht das Recht der Mächtigen einsetzen. Und indem wir wie viele andere Staaten Massnahmen ergreifen und gemeinsam zum Ausdruck bringen, dass dieser eklatante Völkerrechtsbruch nicht einfach hingenommen werden kann. Die UNO entstand nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel, das Zusammenleben der Staaten zu regeln. Das war ein grosses Glück, das lange gewährt hat.

Und jetzt?

Nun müssen wir realisieren, dass stabile, internationale Beziehungen, wie sie Europa in den letzten Jahren hatte, historisch gesehen nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme sind. Umso wichtiger ist es, dass so viele Staaten jetzt dafür einstehen, dass diese Ordnung nicht ohne Konsequenzen mit Füssen getreten werden kann.

«Die Armee ist nicht unsere einzige Verteidigung»: Bundespräsident Ignazio Cassis streicht im Interview mit blue News die Bedeutung der Diplomatie hervor. 
«Die Armee ist nicht unsere einzige Verteidigung»: Bundespräsident Ignazio Cassis streicht im Interview mit blue News die Bedeutung der Diplomatie hervor. 
Bild: thc

Der Ukraine-Krieg löst in der Schweiz auch eine Aufrüstungsdebatte aus.

Ein Krieg in Europa war lange undenkbar. Nimmt die militärische Bedrohung zu, wird die Armee plötzlich wieder wichtig und die militärische Stärke steht wieder im Zentrum. Wir haben eine bewaffnete Neutralität mit einer eigenen Armee. Über Jahrzehnte wuchs in uns das Gefühl, dass es in Europa wohl keine Bodenkriege mehr geben werde. Die Realität der letzten Tage ist leider eine andere.

Also ist die Aufrüstung der richtige Weg?

Für unsere bewaffnete Neutralität brauchen wir eine starke und glaubwürdige Armee. Aber ein gegenseitiges Wettrüsten, wie wir es aus dem Kalten Krieg kennen, kann nicht im Interesse der Schweiz sein, die sich für Frieden, Menschenrechte und Demokratie einsetzt.

Die Schweiz ist ein Kleinstaat und in keinem Verteidigungsverbund, wie etwa der Nato. Wären wir einem Aggressor wie Putin nicht ohnehin schutzlos ausgeliefert?

Zuletzt kam die Frage, ob sich die Schweiz gegen mächtige Aggressoren selbständig schützen kann, im Zweiten Weltkrieg auf. Doch ist die Armee nicht unsere einzige Verteidigung. Wir haben uns auf Diplomatie spezialisiert und nehmen damit eine besondere Rolle als Vermittlerin ein. Wir sind ein neutrales Land, in dem sich zerstrittene Parteien treffen können. Im letzten Jahr trafen sich US-Präsident Joe Biden und Wladimir Putin in Genf.

Die ganze Welt fragt sich, wie Putin tickt. Wie erlebten Sie ihn im persönlichen Gespräch?

Unsere Unterhaltung dauerte rund 40 Minuten und war sehr formell. Man hat nicht die Zeit, sich gegenseitig kennenzulernen. Aber man spürt, dass dieser Präsident sehr selbstbewusst ist und genau weiss, was er will. Putin war für mich auf der emotionalen Ebene nicht wirklich spürbar – bei solchen Gesprächen ist es aber selten, dass man sich menschlich näherkommt.

Eine automatische Übernahme von EU-Massnahmen werde es auch weiterhin nicht geben, hält der Bundespräsident fest. 
Eine automatische Übernahme von EU-Massnahmen werde es auch weiterhin nicht geben, hält der Bundespräsident fest. 
Bild: thc

Diese Woche beschloss der Bundesrat, die Sanktionen der EU zu übernehmen. Gab es schon Reaktionen aus Russland?

Nein, bislang gab es keine Reaktion.

Sie sprachen vergangene Woche mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, der Ihnen auf Twitter gedankt hat. Versuchten Sie auch, Wladimir Putin zu erreichen?

Nein. Wir haben aber das starke Bedürfnis, mit beiden Konfliktparteien in Kontakt zu stehen. Ein Treffen mit Aussenminister Sergei Lawrow war am Rande des UNO-Menschenrechtrates von Anfang Woche in Genf vorgesehen –  kam jedoch nicht zustande, weil er schliesslich nicht nach Genf reiste.

Sehen Sie überhaupt einen Weg, wie der Westen wieder zu normalen Beziehungen mit Putin finden kann?

Putin beging eine der grössten Verletzungen des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist keine Kleinigkeit, sondern eine Zäsur, die den Lauf der Geschichte verändert. Noch realisieren wir es wohl nicht, aber die Welt wird nach diesem Krieg eine andere sein. Was mit Russland geschieht, lässt sich nicht sagen, es wäre reine Spekulation. Alles hängt davon ab, was in den kommenden Tagen passiert.

Dass sich Putin nach diesem Krieg wieder rehabilitiert, ist kaum vorstellbar.

Als normaler Bürger kann man sich  dies im Moment wirklich kaum vorstellen, aber als Bundespräsident weiss ich um die Wichtigkeit der nächsten Schritte. Zentral ist der Dialog. Nur mit Dialog wird man diesen Krieg beenden können.

Der Ruf der Schweiz geriet vergangene Woche in Schieflage. International wurde der Bundesrat dafür kritisiert, dass er die EU-Sanktionen nicht sofort übernommen hat.

Der Bundesrat hat rasch reagiert. Der Krieg brach am Donnerstagmorgen um 4 Uhr aus, sieben Stunden später sass der Bundesrat schon in einer ausserordentlichen Sitzung. An dieser beschloss er die scharfe völkerrechtliche Verurteilung Russlands. Zudem entschied der Bundesrat, dass er die richtigen Massnahmen treffen muss, damit die Schweiz keine Profiteurin des Krieges wird.

Was musste abgeklärt werden?

Zwei Dinge: die Neutralität und die Möglichkeiten der Diplomatie.

Alt Bundesrätin Doris Leuthard sagte in einem Interview, dass in solch einem Fall mit eindeutigem Aggressor Neutralität keinen Platz habe.

Die Neutralität ist für die Schweiz nichts Nebensächliches, sondern identitätsstiftend. Sie ist, was uns charakterisiert. Es war deshalb richtig und wichtig, dass wir die Frage der Neutralität genau geklärt haben. Und unser Entscheid vom Montag steht nicht im Widerspruch zur Neutralität.

Wenn die EU weitere Sanktionen beschliesst, kann die Schweiz schneller nachziehen?

Der Bundesrat wird von Fall zu Fall entscheiden. Eine automatische Übernahme von EU-Sanktionen wird es weiterhin nicht geben. Die Schweiz übernimmt die ersten drei Sanktionspakete, kommt ein viertes, wird sich der Bundesrat erneut damit befassen. Das ist, was die Schweiz schon immer gemacht hat. Bislang übernahmen wir schon die meisten  EU-Sanktionen, beispielsweise auch jene gegen Belarus.

Aber wird es künftig schneller gehen?

Erstens: Dieses Narrativ, dass es langsam gegangen sei, ist falsch. Die Schweiz hat trotz der Wichtigkeit des Entscheids schnell reagiert. Und zweitens, was künftige Sanktionen angeht: Es kommt drauf an. Wenn es eine vergleichbare Situation ist, dann dient das natürlich als Entscheidungshilfe. Wenn es eine total andere Situation ist, müssen wir diese genau anschauen.

Wären Sanktionen beim Rohstoffhandel eine vergleichbare Situation?

Bis jetzt ist in der Europäischen Union keine Rede von totalen Wirtschaftssanktionen oder von Sanktionen gegen den Rohstoffhandel. Sollte dies der Fall sein, werden wir das prüfen.

Dieser Konflikt kam nicht über Nacht, sondern hat sich mit dem russischen Truppenaufmarsch über Wochen abgezeichnet. Da erhält man durchaus den Eindruck, der Bundesrat sei auf dem falschen Fuss erwischt worden.

Was passiert ist, war in diesem Ausmass, mit dieser Invasion, von den meisten Staaten nicht erwartet worden. Es war das unwahrscheinlichste Szenario. Wir haben uns auf verschiedene Szenarien vorbereitet, vor allem auf eine russische Annexion der ostukrainischen selbsternannten Volksrepubliken. Im Nachhinein sind wir alle klüger. Wer hätte sich vor einer Woche vorstellen können, dass Russland ein ganzes Land militärisch angreifen würde?

Der Bundesrat will in den UNO-Sicherheitsrat: Gegen die Kandidatur erwächst aber zunehmend Widerstand. Die SVP ist komplett dagegen, jetzt wurde auch Kritik aus der Mitte-Fraktion laut.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Widerstand tatsächlich wächst. Im Gegenteil, ich spüre keinen grossen Widerstand in der Bevölkerung, sondern Überzeugung, dass dieser Einsitz im Sicherheitsrat zu unserer UNO-Mitgliedschaft gehört. Der Lärm der letzten Tage darf in meinen Augen nicht überbewertet werden. Rund ein Drittel in der Politik ist dagegen, ja. Aber dieser Anteil ist seit Jahren konstant.

Aus der Mitte gibt es auch Kritik an Ihrem Departement, dem Aussendepartement EDA. Wie ordnen Sie das ein?

Da geht es auch um Parteipolitik, aber mit der Schweiz als Institution oder der über Jahre hinweg vorbereiteten Kandidatur hat das wenig zu tun. 2011 hat der damalige Bundesrat entschieden, diesen Weg zu gehen, jetzt sind wir bereit. 2015 wurde in einem Bericht vertieft dargelegt, dass es neutralitätsrechtlich und -politisch unproblematisch ist, wenn wir Mitglied des UNO-Sicherheitsrats wären. Alles wurde demokratisch entschieden, im Parlament und in den Kommissionen hat die Mitte übrigens immer zugestimmt, die SVP war immer dagegen. Jetzt heisst es: Let’s go. Wir sind bereit und können das.

Es waren sehr ereignisreiche Tage für die Welt, für die Schweiz und für Sie als Bundespräsident und Aussenminister. Gibt es schon Lehren, die Sie gezogen haben?

Die wichtigste Lehre ist: Die Unsicherheit ist leider wieder da. Diese Angst spüren wir alle, und wir spüren auch die riesige Solidarität der Bevölkerung. Die Ukrainer sind Europäer, genau wie wir. Das ist unser Kontinent, das ist Krieg auf unserem Kontinent. Wir hatten jetzt drei, vier Generationen ohne zwischenstaatlichen Krieg – und plötzlich ist er wieder da. Das ist unglaublich hart, für alle. Die Bevölkerung und die Staaten müssen sich neu organisieren. Deshalb spreche ich von einer Zäsur, einer Zeitenwende. Und der Einsatz der Schweiz muss es sein, beim Aufbau dieser neuen Architektur zu helfen – mit unseren Werten wie Neutralität oder Demokratie.

Wegen des Krieges ist das EU-Dossier beinahe untergangen. Brüssel hat sich stets gegen Pakete mit verschiedenen Abkommen ausgesprochen. Dennoch setzen Sie genau darauf. Was stimmt Sie optimistisch?

Wir bereiten die Position der Schweiz nicht nur in Bezug auf die Erwartungen der EU vor, sondern vor allem in Bezug auf die Machbarkeit innerhalb der Schweiz – im Bewusstsein, dass das Volk darüber abstimmt. Wir haben einen Weg gewählt, von dem wir uns eine grosse innenpolitische Akzeptanz erhoffen, und für diesen Weg wollen wir jetzt kämpfen.

Ein anderes Thema, das gerade untergeht, ist Corona: Ist die Pandemie jetzt vorbei, Herr Bundespräsident?

Das Virus wird bleiben, aber die Ansteckungen gehen deutlich zurück. Viele sind geimpft oder genesen. Deshalb konnte der Bundesrat an zwei Medienkonferenzen die Aufhebung fast sämtlicher Massnahmen bekannt geben. Das ist erfreulich. Weniger erfreulich ist, dass am Ende dieser Krise eine neue Krise entstanden ist, die Ukraine-Krise. Das ist eine psychologische Belastungsprobe für die Bevölkerung und das Land, und davor müssen wir Respekt haben.