Persönlicher Nachruf Wie mir Michail Gorbatschow die Welt eröffnet hat

Von Andreas Fischer

31.8.2022

Michail Gorbatschow, hier beim Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Island, hat mit seiner ruhigen und nachdenklichen Art das Ende des Kalten Krieges eingeläutet.
Michail Gorbatschow, hier beim Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Island, hat mit seiner ruhigen und nachdenklichen Art das Ende des Kalten Krieges eingeläutet.
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Plötzlich war da ein halbwegs junger Mann in Moskau, der zum Helden taugte: Unser Autor ist in der DDR aufgewachsen und weiss, wer sein Leben verändert hat. Ein persönlicher Nachruf auf Michail Gorbatschow.

Von Andreas Fischer

31.8.2022

Irgendwann Ende der 1980er-Jahre, es muss 1987 oder 1988 gewesen sein, hat mir mein Vater ganz stolz eine Zeitschrift gezeigt. «Das Magazin» hiess das Blatt schlicht und war sogenannte Bückware in der DDR: gar nicht oder nur mit Beziehungen zu bekommen.

Mein Vater aber hatte es geschafft, ein Abo zu ergattern. «Das ist nur möglich wegen Michail Gorbatschow», sagte er und erklärte mir, was «Glasnost» und «Perestroika» bedeuten. «Offenheit» (Glasnost) und «Umgestaltung» (Perestroika) mussten wir damals erst lernen. Michail Gorbatschow half uns dabei. Das habe ich sogar als Kind mitbekommen.

Meine Kindheit war ideologisch geprägt. Ich war ein engagierter Pionier, ein kleiner Funktionär sogar und als Agitator «zuständig für politische Aufklärungsarbeit» an meiner Schule. Als Gorbi 1985 Vorsitzender der Kommunistischen Partei der UdSSR (KPdSU) wurde, habe ich mich gewundert: Bislang waren das immer sehr, sehr alte Männer, die bei Militärparaden oder Staatsbesuchen häufig zitterten.

Mit Gorbatschow wurde alles anders

Gorbatschow aber wirkte mit damals 54 Jahren nicht nur jung, auch seine Ideen waren es. Man spürte im Kleinen, wie sie in die DDR verfingen – zum Beispiel, indem es mehr Abos für «Das Magazin» gab, einer der wenigen leicht subversiven Publikationen in der DDR.

Ich spürte es aber auch im Grossen, wie wichtig Michail Gorbatschow für die Politik war: Er nahm mir die Angst vor dem Atomkrieg. Als er mit US-Präsident Ronald Reagan im Dezember 1987 das INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen unterzeichnete, sass ich gebannt vor dem Fernseher und habe mich – mit Verlaub – tierisch gefreut.

«Glasnost» und «Perestroika» – mit Gorbatschow wurde alles anders. Auch wenn ich die Tragweite seiner Reformen noch nicht verstand, der Mann war für mich ein Held. Ich habe erst später begriffen, was Gorbatschow geleistet und was er dafür aufgegeben hat.

Keine Panzer, kein Blutvergiessen

Auch wenn er es so nie öffentlich gesagt hat, aber sein «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben» war bei uns im Herbst 1989 in aller Munde. (Das konkrete Zitat «Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren» wurde von einem Sprecher recht frei übersetzt.) Ein paar Wochen später fiel die Mauer, und die DDR-Granden konnten nichts dagegen tun: Gorbatschow hatte die Freiheit eingeläutet und sie auch gleich mit verteidigt.

Dass die deutsche Wiedervereinigung mit einer friedlichen Revolution beginnen konnte, lag auch daran, dass Gorbatschow keine Panzer schickte, um die Montagsdemos zu zerschlagen. Er hatte es den Staaten des Warschauer Paktes erlaubt, ihre inneren Angelegenheiten souverän zu regeln. Eine sowjetische Invasion wie in Ungarn 1956 oder Prag 1968 würde es nicht mehr geben.

Ein Systemwechsel ohne Blutvergiessen – das erlebt die Welt selten. Dafür bin ich Gorbatschow bis heute dankbar und dafür, dass er sich 1990 nach anfänglichem Zögern doch entschlossen hat, der Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen. Ohne ihn hätte mir die Welt nicht offen gestanden. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

Meine Freiheit gegen seine

Dass des einen Freud des anderen Leid ist, wurde mir zwei Jahre später bewusst. Im August 1991 war ich mit meiner Familie auf dem Rückweg aus den Ferien in Dänemark. Dass wir überhaupt dorthin fahren konnten, hatten wir nicht zuletzt Michail Gorbatschow zu verdanken. Im Autoradio hörten wir, dass es in der Sowjetunion einen Putsch gab, dass Michail Gorbatschow unter Hausarrest gestellt wurde.

Der Mann, der mir die Freiheit geschenkt hatte, hatte seine verloren, weil es Kräfte gab, die mit seinem Kurs nicht einverstanden waren. Als der Putsch nach drei Tagen beendet wurde, war ich erleichtert.

Michail Gorbatschow hatte von einem «gemeinsamen Haus Europa» geträumt. Er musste in den vergangenen Jahren mit ansehen, wie dieser Traum in seiner Heimat immer weiter zerbarst. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Michail Gorbatschow hat mein Leben verändert. Bolschoje spasibo.