Judentum «Der Antisemitismus ist heute vermehrt wahrnehmbar» 

Von Anna Kappeler

10.10.2019

Ein Rabbiner zündet an einem Leuchter eine Kerze an, in einer Basler Synagoge.
Ein Rabbiner zündet an einem Leuchter eine Kerze an, in einer Basler Synagoge.
Bild: Keystone

Der Angriff auf eine Synagoge in Halle entfacht die Debatte über Antisemitismus auch in der Schweiz neu. Doch wie dem Judenhass entgegentreten? Durch das Abbauen von Vorurteilen, sagt ein Kulturschaffender.

Der antisemitisch motivierte Angriff auf eine Synagoge und einen Döner-Stand im deutschen Halle löst auch in der Schweiz Besorgnis aus. Der Präsident des Israelitischen Gemeindebunds der Schweiz (SIG), Herbert Winter, wünscht sich mehr Unterstützung von den Behörden, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft.

«Wir stellen vermehrt antisemitische Postings und Drohungen in den sozialen Medien fest», sagte Winter gegenüber SRF. Im Alltag und auf der Strasse spüre er hierzulande zum Glück keine Bedrohung.

Am Mittwoch – dem Tag des Anschlags in Halle – hat der Bundesrat beschlossen, jüdische und muslimische Gemeinschaften in der Schweiz besser zu schützen. Der Entscheid wurde aber unabhängig von dem Hassverbrechen gefällt. Der Bund beteiligt sich künftig maximal mit einer halben Million Franken pro Jahr an den Sicherheitskosten für besonders gefährdete Minderheiten.



Konkret soll das Geld für Zäune, Mauern oder andere Schutzmassnahmen eingesetzt werden – nicht aber für Sicherheitspersonal. Die Verordnung dazu tritt am 1. November in Kraft, ab dann können Gesuche für Unterstützung beim Bundesamt für Polizei gestellt werden.

577 antisemitische Vorfälle

In seinem neuesten Antisemitismus-Bericht zählt der SIG 577 antisemitische Vorfälle, die sich im vergangenen Jahr in der Schweiz ereignet hätten. Darin aufgeführt werden beispielsweise judenfeindliche Aussagen (552), Beschimpfungen (11) , aber auch Tätigkeiten (1). 535 der Vorfälle haben sich gemäss der Statistik online ereignet. Interessant: In der Schweiz fehlen offizielle Zahlen zu antisemitisch motivierten Straftaten.

«Eine beängstigende Entwicklung»

Einer, der sich beruflich und privat mit dem Judentum auseinandersetzt, ist der Architekt Michel Rappaport. Er ist neben seines Berufs Direktor von «Yesh! Neues aus der jüdischen Filmwelt» – jährlich stattfindenden Filmtagen in Zürich.

Er sagt: «Es gibt nicht mehr Antisemitismus, aber dieser ist vermehrt wahrnehmbar.» Unter der Oberfläche habe es in der Bevölkerung stets eine latente Abneigung gegeben. Neu sei, dass Leute öffentlich mit ihren Namen hinstünden, wenn sie antisemitische Äusserungen machten. «Das ist eine beängstigende Entwicklung.»



Rappaport sagt, er selber habe zum Glück noch nie negative Erfahrungen bezüglich seines Judentums machen müssen. «Auch das ‹Yesh!› hat noch nie Hassmails bekommen.»

«Vorurteile basieren auf Unwissen»

Sieht er eine Möglichkeit, Antisemitismus entgegenzutreten? «Mir ist wichtig, festzuhalten: Vorurteile basieren oft auf Nichtwissen», sagt Rappaport. Eine Plattform wie das «Yesh!», um sich zu begegnen und sich kennenzulernen, könne hier eine integrierende Funktion übernehmen. An den Filmtagen treffe sich nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern auch Nicht-Juden kämen. «Und zwar jedes Jahr mehr.» So würden gegenseitige Vorurteile abgebaut.



Rappaport liebt Filme. «Ich bin über das grosse, alljährliche Angebot betreffend Filme zu jüdischer Kultur, Geschichte, Gesellschaft und Religion darauf gekommen, in Zürich Filmtage zu organisieren.» Die Filme und Serien seien sehr unterschiedlich und zeigten die verschiedenen Seiten des jüdischen Lebens.

Ein gutes Beispiel: «Die Netflix-Serie ‹Shtisel› über orthodoxe Juden in Jerusalem begeistert viele Leute. Doch die orthodoxe Gesellschaft ist nur ein kleiner Teil des Judentums.» Die meisten Juden seien – wie er – auf den ersten Blick nicht als Juden erkennbar. «Gleichwohl sind sie jüdisch.» Das werde an den Filmtagen auch gezeigt.

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