Afghanische Flüchtlinge «Möglich, dass auch mehr als 10'000 Menschen Anrecht auf Asyl haben»

Von Alex Rudolf

18.8.2021

Ein Taliban-Kämpfer posiert für die Kamera in Ghazni. Eine Stadt südwestlich von Kabul.
Ein Taliban-Kämpfer posiert für die Kamera in Ghazni. Eine Stadt südwestlich von Kabul.
KEYSTONE

Wie soll sich die Schweiz auf eine Flüchtlingswelle aus Afghanistan vorbereiten? Der Bundesrat wartet auf Ansagen der internationalen Gemeinschaft, Grüne und SP fordern rasche Massnahmen.

Von Alex Rudolf

18.8.2021

Bei den Linken sorgten die Aussagen von Justizministerin Karin Keller-Sutter und von Aussenminister Ignazio Cassis (beide FDP) an einer Medienkonferenz von heute Mittwoch für Entrüstung. Die von der SP geforderte Aufnahme von 10'000 Flüchtlingen aus Afghanistan bleibt vorerst ein Wunsch.

Denn der Bundesrat wird lediglich 230 Personen evakuieren lassen. Dabei handelt es sich um rund 40 Angestellte des Kooperationsbüros der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit sowie um deren Kernfamilien.

Was die Aufnahme weiterer Flüchtlinge angeht, verweisen die Magistraten aber darauf, dass man erst auf eine Auslegeordnung der UNO warten müsse. Dies, zumal zurzeit ohnehin niemand Afghanistan verlassen könne.

«Den Tausenden von Asylsuchenden aus Afghanistan, die bereits in der Schweiz sind, könnte der Bundesrat gleich den Verbleib in der Schweiz zusichern. Doch auch dies tat er nicht.»

SP-Co-Präsidentin und Nationalrätin Mattea Meyer (SP/ZH) findet, dass der Bundesrat viel zu wenig unternimmt. «Aktuell lassen die Taliban niemanden aus Afghanistan ausreisen, doch wenn sie dies tun, muss die Schweiz bereit sein», sagt sie auf Anfrage.

So könnten bereits humanitäre Visa sowie der Familiennachzug vorbereitet werden, um später eine rasche Abwicklung zu ermöglichen. «Den Tausenden von Asylsuchenden aus Afghanistan, die bereits in der Schweiz sind, könnte der Bundesrat gleich den Verbleib in der Schweiz zusichern. Doch auch dies tat er nicht.»

«Jede Sekunde ist wertvoll»

«Für viele Afghan*innen geht es hier um Leib und Leben. Als die Banken in der Krise steckten, half der Bundesrat sehr rasch», sagt etwa Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne/BS). Sie ist Mitglied der Aussenpolitischen Kommission (APK). Die Grünen werden vom Bundesrat humanitäre Visa sowie weitere Sofortmassnahmen fordern, sagt sie. «Die Aufnahme von lediglich 230 Afghan*innen ist überhaupt nicht angebracht.» Jede Sekunde sei nun wertvoll und müsse genutzt werden.

Ständerätin Andrea Gmür (Die Mitte/LU) kann nachvollziehen, dass einige Aussagen der Justizministerin zynisch klingen. «Etwa, dass wir niemanden aufnehmen können, weil die Lage zu instabil ist.» Dennoch sei es wichtig, dass erst eine Auslegeordnung von der UNO gemacht werde und die Schweiz mit ihren Nachbarn eine Strategie festlegt. «Wir wollen den Menschen in Afghanistan helfen, müssen dies aber gemeinsam mit den europäischen Staaten tun.»

«Die Situation vor Ort ist tatsächlich unklar»

Anders sieht dies ihr APK-Mitglied und Nationalrat Roland Büchel (SVP/SG). «Die Machtübernahme durch die Taliban verlief recht ruhig. Bis jetzt ist die Bevölkerung zum Glück nicht direkt gefährdet», sagt er. Dass jene, die für die Schweiz gearbeitet haben, evakuiert werden sollen, unterstützt er, da diese tatsächlich an Leib und Leben bedroht sein könnten.

Für diese Einschätzung wird er von der SP kritisiert. «Die Situation vor Ort ist unübersichtlich», sagt Meyer. Doch dass die Gefährdung der Bevölkerung nicht real sei, hält sie für einen Hohn. «Nebst den Schreckensmeldungen, die bereits heute vereinzelt auftauchen, wissen wir, was die Taliban in den 1990er-Jahren gemacht haben.»

«Gut möglich, dass dann auch mehr als 10'000 Menschen mit einem Bezug zur Schweiz ein Anrecht auf einen Flüchtlingsstatus geltend machen können.»

Aus Hans-Peter Portmanns (FDP/ZH) Sicht handelt der Bundesrat richtig. «So sieht es der Gesetzgeber vor.» Auch müsse die internationale Gemeinschaft erst eine Bedarfsanalyse vornehmen, um zu wissen, wie viele Menschen denn tatsächlich bedroht sind. Gut möglich, dass dann auch mehr als 10'000 Menschen mit einem Bezug zur Schweiz ein Anrecht auf einen Flüchtlingsstatus geltend machen können. «Fixe Zahlen sind in der Flüchtlingspolitik generell keine gute Idee.»