FDP-Präsident Thierry Burkart «Wir werden künftig nur noch mehr Strom verbrauchen»

Von Gil Bieler

31.10.2022

FDP-Chef Thierry Burkart: «Die Menschen wählen lieber Parteien, die Sicherheit ausstrahlen»

FDP-Chef Thierry Burkart: «Die Menschen wählen lieber Parteien, die Sicherheit ausstrahlen»

Gemäss Umfragen geht die FDP mit Rückenwind ins Wahljahr 2023. Ob der Freisinn von der aktuellen Krisenlage profitieren kann, beantwortet Parteipräsident Thierry Burkart im Video.

31.10.2022

Die FDP legt in der Gunst der Wähler*innen zu – trotz oder wegen der Stromkrise? Parteichef Thierry Burkart über das Wahljahr 2023, Fehler der Energiestrategie und die Leistung von Bundesrat Ignazio Cassis.

Von Gil Bieler

31.10.2022

Herr Burkart, der neue SRG-Wahlbarometer sieht die FDP im Aufwind. Haben Sie schon den Champagner kühlgestellt?

Natürlich nicht. Umfragen sind nur Momentaufnahmen, die Abrechnung kommt erst am Wahlsonntag in einem Jahr. Aber selbstverständlich ist es erfreulich und es bestätigt einen Trend, den wir schon bei den kommunalen und kantonalen Wahlen in diesem Jahr gesehen haben. Wir sind auf dem richtigen Weg, das motiviert.

Für eine Trendumkehr wäre es höchste Zeit: Laut einer Aufrechnung des Politanalysten Mark Balsiger hat die FDP seit 2019 in kantonalen Wahlen 38 Parlamentssitze eingebüsst.

Da muss man differenzieren: Zum einen wurde in Graubünden vom Majorz- zum Proporzsystem gewechselt, diese neun verlorenen Sitze muss man herausrechnen. Zum anderen kann ich nur das verantworten, was seit meinem Amtsantritt im Oktober 2021 geschehen ist. Und seither konnten wir fast überall dazugewinnen.

Was lief denn unter Ihrer Vorgängerin Petra Gössi falsch?

Ich kann nur für mich reden. Ich habe versucht, gewisse Aspekte in der Partei zu stärken: Erstens müssen wir Themen früh besetzen, um die politische Debatte prägen zu können. Wir müssen zweitens eindeutige Positionen einnehmen und klar kommunizieren, wofür wir stehen. Und drittens will ich zusammen mit meinem Führungsteam den Optimismus, den Mut wieder in diese Partei hineinbringen. Das ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen, aber es bleibt noch viel zu tun.

Beobachter*innen sagen, die FDP sei unter Ihnen nach rechts gerutscht. War die Partei unter Gössi zu links?

Ich halte nicht viel von Einordnungen wie «links» oder «rechts». Entscheidend ist für mich, dass die FDP zu ihrem liberal-bürgerlichen Fundament steht und aufgrund ihrer Werte politisiert. Wir haben uns jedenfalls nicht zum Ziel gesetzt, uns politisch zu verschieben. Ich interessiere mich auch nicht für Wahlkampfüberlegungen, wie wir welcher anderen Partei noch ein paar Stimmen abluchsen könnten.

An der Delegiertenversammlung kritisierten Sie kürzlich die Debatten ums Gendern und kulturelle Aneignung als übertrieben. Das klingt mehr nach SVP-Bundesrat Ueli Maurer als dem Chef einer liberalen Partei.

Das waren ein oder zwei Sätze in einer 25-minütigen Rede. Aber ich habe das gesagt und ich stehe auch dazu: Die aus dem Ruder geratene Gender-Diskussion und die übertriebene Diskussion um die kulturelle Aneignung sind keine liberalen, sondern ausgrenzende Bewegungen. Der liberale Ansatz wäre, dass die Menschen frei sind und ihr Leben so gestalten können, wie sie wollen.

FDP-Parteichef Thierry Burkart will seine Partei zur zweitstärksten Kraft im Land machen. Im Bild: Der Aargauer im Gespräch mit Mitte-Präsident Gerhard Pfister.
FDP-Parteichef Thierry Burkart will seine Partei zur zweitstärksten Kraft im Land machen. Im Bild: Der Aargauer im Gespräch mit Mitte-Präsident Gerhard Pfister.
Bild: Keystone

Aber genau darum geht es doch.

Im Kern mag das sein, aber in der praktischen Ausgestaltung ist das nicht der Fall. Wenn Menschen nicht mehr die Frisur tragen dürfen, die sie wollen – ganz gleich, aufgrund welcher Überlegungen –, dann ist das nicht freiheitlich und tolerant, sondern das Gegenteil davon.

Die mit dem deutschsprachigen Literaturpreis prämierte nonbinäre Autorenperson Kim de l’Horizon schreibt in einem Essay, sie werde allein aufgrund ihres Äusseren angefeindet, sogar geschlagen. Sie fragt: «Was habe ich euch getan?» Was antworten Sie?

Nichts, denn davon fühle ich mich nicht angesprochen. Ich fühle mich ja auch nicht provoziert durch diese Person.

Umfrage
Welche Partei würdest du wählen?

Eines Ihrer Wahlkampfthemen ist die Energieversorgung. Dass der Schweiz eine Strommangellage droht, bezeichnen Sie als «Politikversagen erster Güte». Dabei sind wir doch nur wegen des Kriegs in der Ukraine in diesem Schlamassel.

Nein, nicht nur. Erschwert wird die Situation in der Tat dadurch, dass wir einen trockenen Sommer hatten, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist und vor allem, dass die Hälfte der französischen AKW derzeit nicht am Netz ist. Aber: Carlo Schmid, der damalige Präsident der Elektrizitätskommission Elcom, hat bereits 2016 vor einer Strommangellage gewarnt. Man hat dieses Problem für 2025 erwartet, jetzt tritt es einfach früher ein. Trotzdem war die Politik nicht fähig, Lösungen zu finden.

Woran liegt's?

Es wurden vier Fehlannahmen getroffen: Dass wir alle weniger Strom verbrauchen würden. Dann war die Annahme, wie rasch das Potenzial erneuerbarer Energien ausgeweitet werden kann, viel zu optimistisch. Man erwartete auch, dass wir Strom unlimitiert aus dem Ausland beschaffen könnten. Und zu guter Letzt steht bereits in der Energiestrategie, dass es vier bis fünf Kombigaswerke brauche. Deren Bau hat man aufgrund von Klimaschutzbedenken aber nie an die Hand genommen. All das ist ein Versäumnis der Politik.

Gerade passiert aber viel: Der Bund hat Gasreserven zugekauft, Sparappelle erlassen, einen Rettungsschirm für die Strombranche aufgespannt. Befürchten Sie dennoch einen Blackout im Winter?

Wenn es ein milder Winter wird, haben wir gute Chancen, dass wir ohne Stromlücke davonkommen. Der nächste und der übernächste Winter könnten viel anspruchsvoller werden. Aber wir müssen in dieser Diskussion aufpassen, dass kurz-, mittel- und langfristige Perspektive nicht vermischt werden. Kurzfristig brauchen wir – wegen politischer Versäumnisse – das Notkraftwerk in Birr.

Parlament heisst Rettungsschirm für Elektrizitätsunternehmen gut

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Das Parlament hat den mit zehn Milliarden Franken dotierten Rettungsschirm für Stromunternehmen gutgeheissen. Nach dem Ständerat sagte auch der Nationalrat Ja zu Gesetzesbestimmungen und zum Verpflichtungskredit von zehn Milliarden Franken, gegen den Willen der SVP.

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Auch mittelfristig tut sich etwas: Unter Vermittlung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga wurden an einem runden Tisch 15 Wasserkraft-Projekte beschlossen. Reicht das nicht?

Das ist eine Verbesserung, aber nicht ausreichend. Denn darin enthalten sind auch Projekte für die Erhöhung von Staumauern. Das ist ein Ausbau der Speicherkapazität. Die brauchen wir auch, damit wir den überschüssigen Sommerstrom für den Winter speichern können.

Was wir vor allem aber brauchen, ist mehr Stromproduktion. Denn wir werden künftig nur noch mehr Strom verbrauchen, das lässt sich auch mit Effizienzsteigerungen nicht vermeiden.

Berechnungen der ETH sagen uns einen zusätzlichen Strombedarf von zusätzlich rund 40 Terawattstunden pro Jahr voraus. Heute verbrauchen wir rund 60 Terawattstunden. Um die Stromversorgung bis dann zu sichern, müssen wir daher bereits jetzt über ein neues Grosskraftwerk sprechen. Sonst bekommen wir es wieder nicht hin. Welche Technologie dabei zum Zug kommt, ist aus liberaler Sicht nicht entscheidend.

Sie finden auch, dass die AKW länger betrieben werden sollen – notfalls mit Finanzhilfe des Bundes. Wie geht das mit einer wirtschaftsliberalen Haltung zusammen?

Die bestehenden Kernkraftwerke sollen so lange betrieben werden, wie sie als sicher gelten. Um die Laufzeit zu verlängern, müssen sich also Investitionen in die Sicherheit wirtschaftlich lohnen. Mein Vorschlag setzt beim Stilllegungs- und Entsorgungsfonds an, in den die Kraftwerk-Betreiber einzahlen müssen. Dieser ist bereits übervoll. Würde man die Beiträge reduzieren, stünde ihnen mehr Geld für Investitionen in die Sicherheit zur Verfügung. Das wäre also keine Subvention, sondern die Reduzierung einer Abgabe, die sich in der aktuellen Grössenordnung überholt hat.

Atomkraftwerke sollen so lange laufen, wie sie als sicher gelten, fordert FDP-Parteichef Thierry Burkart. Im Bild: Kühlturm des AKW Gösgen bei Däniken SO.
Atomkraftwerke sollen so lange laufen, wie sie als sicher gelten, fordert FDP-Parteichef Thierry Burkart. Im Bild: Kühlturm des AKW Gösgen bei Däniken SO.
Bild: Keystone/Gaetan Bally

Sollte der Staat der Credit Suisse zur Hilfe eilen, wenn sie in eine Notlage gerät, so wie er das 2008 im Falle der UBS gemacht hat?

Die UBS war systemrelevant, als sie gerettet werden musste. Das gesamte Finanzsystem hätte sonst enormen Schaden genommen, der zulasten der Wirtschaft und der Bevölkerung gegangen wäre. Darum musste der Staat sie retten. Ich bin nicht sicher, ob die Credit Suisse heute systemrelevant ist. Insofern bin ich sehr skeptisch, ob der Staat helfend eingreifen müsste. Die Credit Suisse ist aufgrund von Missmanagement in diese Situation geraten. Das Problem ist: Wenn ein Unternehmen weiss, dass der Staat einspringt, dann begünstigt das nur eine überhöhte Risikobereitschaft, wie wir sie jetzt im Fall der Credit Suisse sehen.

Sie wollen die FDP zur zweitstärksten Partei machen und die SP überholen. Sichern Sie so den zweiten FDP-Bundesratssitz gegen einen Angriff der Grünen ab?

Wir werden nach den Wahlen Bilanz ziehen. Was mir jedoch klar erscheint: Wenn wir zulegen oder sogar die SP überholen, müssen die Diskussionen über unseren zweiten Sitz beendet werden. Die Formel ist heute klar: Die drei grössten Parteien haben Anspruch auf zwei Sitze. Der Anspruch der Grünen ist aber ohnehin inkonsequent, da sie ihren Anspruch ja nur gegenüber der FDP, aber nie gegenüber der SP anmelden. Sie wollen also nur dann in den Bundesrat, wenn dadurch das linke Lager gestärkt würde. Wenn die Grünen auf die Konkordanz pochen, dann müssten sie ihren Anspruch unabhängig von der Parteifarbe geltend machen.

Laut Wahlbarometer wird FDP-Bundesrat Ignazio Cassis trotz Präsidialjahr als jener Bundesrat wahrgenommen, der am wenigsten Einfluss hat und am wenigsten sympathisch wirkt. Sind Sie zufrieden mit seiner Leistung?

Ich halte wenig von solchen Beliebtheitsrankings. Ein Bundesrat muss gute Arbeit leisten, und das ist bei Ignazio Cassis unbestritten. Er hat als Aussenminister mit den EU-Verhandlungen ein schwieriges Dossier, zudem ist dafür der Gesamtbundesrat verantwortlich. Und es braucht auch auf der Gegenseite Bewegung. Doch die Europäische Union hat sich seit dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen überhaupt nicht bewegt. Die Schweiz hat gezeigt, dass sie bereit ist, weit zu gehen – etwa bei der dynamischen Übernahme von EU-Recht. Aber wir haben noch Klärungsbedarf in Bezug auf die Personenfreizügigkeit.

Sie gelten dagegen als jener Parteipräsident, dessen Einfluss am positivsten wahrgenommen wird. Lösen Sie den unpopulären Cassis 2023 im Bundesrat ab?

Ich habe keinerlei entsprechende Ambitionen – schon gar nicht, da ein Bundesratssitz der FDP traditionell für die lateinische Schweiz reserviert ist.

Ignazio Cassis mache im Bundesrat einen guten Job, findet der FDP-Parteichef – die Bevölkerung sieht das gemäss Wahlbarometer anders.
Ignazio Cassis mache im Bundesrat einen guten Job, findet der FDP-Parteichef – die Bevölkerung sieht das gemäss Wahlbarometer anders.
Keystone/Peter Klaunzer