Tönnies-Skandal «Fleisch ist das emotionalste aller Lebensmittel»

Von Gil Bieler

23.6.2020

Der Coronavirus-Ausbruch im grössten deutschen Schlachtbetrieb beschäftigt auch die Schweiz. Der Direktor des Fleisch-Fachverbands ist «hässig». Ganz auszuschliessen sind Infektionsfälle in hiesigen Betrieben aber nicht.

Die Zustände in Deutschlands grösstem Fleischverarbeiter-Betrieb geben seit Tagen zu reden: Bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück haben sich mindestens 1'550 Mitarbeitende mit dem Coronavirus infiziert. Rund 7’000 Mitarbeiter stehen mitsamt ihren Familien unter Quarantäne. 

Die Tönnies-Fabrik steht still, die Behörden sprachen heute Dienstag für den gesamten Landkreis Gütersloh – in dem die Fabrik liegt – wieder einen Lockdown aus. Das betrifft rund 370'000 Menschen, die in dem Landkreis leben.

Auch Schweizerinnen und Schweizer blicken besorgt nach Deutschland: Ist ein ähnliches Szenario auch bei hiesigen Fleischverarbeitern zu befürchten? 



Ausschliessen, dass es in Schweizer Betrieben – wie in der übrigen Gesellschaft – auch einzelne Infektionsfälle gebe, könne er nicht, sagt Ruedi Hadorn, Direktor des Schweizer Fleisch-Fachverbands (SFF). «Mir selbst ist jedoch keine Häufung von Fällen in unserer Branche bekannt.»

Ideales Klima für Viren

Auch der Basler Epidemiologe Marcel Salathé schliesst das nicht aus. Denn die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben seien für das Virus idealer Nährboden: «Die Übertragung wird vereinfacht, wenn es eng und laut ist, man laut sprechen muss», sagte Salathé dem SRF-Magazin «10vor10» vom Montagabend. Auch eine kühle und feuchte Umgebung erleichtere die Übertragung. 

Dass es in Schlachthöfen zu Ansteckungsherden komme, sei weltweit zu beobachten, sagt Salathé: von den USA über Brasilien und Spanien bis eben nach Deutschland. Dennoch glaube er, die Schweizer Betriebe seien besser aufgestellt als viele im Ausland, was die Schutzmassnahmen angehe.

«Betriebe von der Grösse von Tönnies gibt es in der Schweiz bei Weitem nicht», sagt Hadorn. Während dort bis zu 20'000 Schweine pro Tag geschlachtet werden, kämen Schweizer Betriebe selbst in einer Woche nicht einmal annähernd auf eine solche Zahl. Hadorn spricht von einer «hochindustriellen» Schlachtung, bei der sich nun die «Geiz ist geil»-Mentalität der deutschen Konsumenten räche.

Fleisch aus dem Tönnies-Betrieb in Rheda-Wiedenbrück wird beschlagnahmt.
Fleisch aus dem Tönnies-Betrieb in Rheda-Wiedenbrück wird beschlagnahmt.
Bild: Keystone

«Das macht mich hässig», sagt Hadorn zu den Vorkommnissen bei Tönnies. Schwarze Schafe in der Branche – der Betrugsfall bei der Carna Grischa aus dem Jahr 2014 ist noch in bester Erinnerung – würden «der grossen Mehrheit» von Betrieben schaden, die sauber arbeiteten.

Dass solche Fälle in der Fleischbranche besonders grosses Interesse wecken, kann er verstehen: «Fleisch ist das emotionalste aller Lebensmittel», so Hadorn. Denn anders als bei anderen Lebensmitteln müsse für ein Stück Fleisch ein Tier geschlachtet werden. 

Muster-Schutzkonzept nicht mehr verbindlich

Der SFF hat für seine Mitglieder während der Coronapandemie ein Muster-Schutzkonzept bereitgestellt und dieses regelmässig an die jeweilige Situation angepasst. Seit den grosszügigen Lockerungen des Bundesrats per Anfang dieser Woche sei dieses dieses für nicht öffentlich zugängliche Bereiche nicht mehr verbindlich, sagt Hadorn. «Musterschutzkonzepte gibt es keine mehr», heisst es in der entsprechenden Medienmitteilung des Bundesrats. 

Beim SFF habe man das Musterkonzept soeben trotzdem noch einmal überarbeitet und hoffe, dass sich die Fleischverarbeiter auch weiterhin daran hielten.



Für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten besteht nach aktuellem Stand der Dinge keine Gefahr, sich durch Tönnies-Fleisch mit dem Coronavirus anzustecken. Zwar landen Produkte aus dem deutschen Betrieb auch bei Schweizer Detailhändlern, doch: «Eine Übertragung des neuen Coronavirus durch Lebensmittel oder Trinkwasser auf den Menschen ist bis jetzt nicht bekannt», hält das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen auf seiner Website fest. 

Die deutschen Behörden empfehlen beim Umgang mit rohem Fleisch und Fleischprodukten, die Hygieneregeln einzuhalten: regelmässig Hände waschen und sich nicht ins Gesicht fassen. Da das Coronavirus hitzeempfindlich sei, könne ein etwaiges Risiko durch das Erhitzen von Lebensmitteln zusätzlich verringert werden.

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