Bericht vorgelegt Dutzende Todesfälle nach Tests mit Medikamenten in Münsterlingen

SDA/uri

23.9.2019 - 12:18

An der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, hier eine Luftaufnahme aus dem Jahr 1949, wurden zwischen 1946 und 1980 Medikamentenversuche an mindestens 3000 Personen durchgeführt.
An der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, hier eine Luftaufnahme aus dem Jahr 1949, wurden zwischen 1946 und 1980 Medikamentenversuche an mindestens 3000 Personen durchgeführt.
Source: Staatsarchiv Kanton Thurgau

An der psychiatrischen Klinik Münsterlingen testete Klinikdirektor Roland Kuhn zwischen 1946 und 1980 an Tausenden Patienten nicht zugelassene Medikamente. Ein Forschungsbericht gibt Einblick in dieses dunkle Kapitel.

Die Studie wurde am Montag im Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld vorgestellt. Ein unabhängiges, interdisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung der Professorin Marietta Meier von der Universität Zürich hat das rund 300-seitige Buch verfasst. Der Bericht gibt einen detaillierten Überblick über die Medikamentenversuche.

Roland Kuhn spielte eine massgebliche Rolle bei der Entwicklung des ersten Antidepressivums Tofranil. Seine Tests führte der Arzt zum Teil an einigen wenigen Personen durch, daneben gab es auch gross angelegte Versuchsreihen mit über 1000 Patienten. Kuhn selber erwähnte in seinen Unterlagen etwa 3000 Fälle.

Das Forschungsteam fand Beweise für 67 Substanzen, die in Münsterlingen getestet wurden. Für weitere 50 Stoffe sind Anfragen oder Lieferungen belegt. Gefunden wurden auch zwei Blechschachteln mit 25'000 Dragees mit der Bezeichnung «G 35259, Ketimipramin», einem Antidepressivum, das laut Marietta Meier nie auf den Markt kam.



Es gab auch Todesfälle

Nur selten seien Patientinnen und Patienten genau über die Substanzen aufgeklärt worden und hätten freiwillig an klinischen Versuchen teilgenommen, erklärte Meier. Eine konsequente Kontrolle habe es nicht gegeben, «es gab auch Zwischen- und Todesfälle». 

Laut dem «Tages-Anzeiger» stiessen die Forschenden insgesamt auf 36 Personen, die nochwährend oder kurz nach der Verabreichung von Prüfstoffen starben. Lediglich bei zehn der Fälle habe Kuhn aber einen Zusammenhang in Erwägung gezogen. Bei 26 von ihnen habe er gemäss dem Forschungsbericht hin und her laviert, sei zuletzt aber stets zu einem negativen Schluss gekommen.

Neben der Klinik Münsterlingen und den Pharmafirmen war ein breites Netz von Institutionen und Personen in die Versuche einbezogen: stationäre und ambulante Patienten, deren soziales Umfeld, privat praktizierende Ärzte, andere Kliniken und Behörden. Kuhn soll für die Versuche 3,5 Millionen Franken erhalten haben.

Blick auf die Gebäude der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen. (Archiv)
Blick auf die Gebäude der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen. (Archiv)
Bild: Keystone

Kuhns Forschungsmethode habe spätestens ab Mitte der 1960er Jahre den wissenschaftlichen Standards nicht mehr genügt, sagte Regierungspräsident Jakob Stark an der Medienkonferenz. Trotzdem hätten die Behörden und die Pharmaindustrie Kuhn weiterhin gewähren lassen und ihn für die Versuche bezahlt.

Als besonders irritierend bezeichnete Stark «das schiere Ausmass der Tests» sowie die Tatsache, dass Testpräparate auch Patientinnen und Patienten abgegeben wurden, die nicht zu den Testpersonen gehörten. «Sehr betroffen macht, dass auch besonders vulnerable Patientengruppen wie Kinder, Jugendliche und Schwerst- und Chronischkranke in die Tests miteinbezogen wurden.»



Regierung entschuldigt sich

Die Thurgauer Regierung entschuldigte sich in einer Erklärung «bei allen Betroffenen von Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen zwischen 1940 und 1980». Den Betroffenen werde ein «Zeichen der Erinnerung» auf dem ehemaligen Spitalfriedhof von Münsterlingen gewidmet, heisst es in der Erklärung.

Nicht bestätigt habe sich die anfängliche Mutmassung, auch Kinder und Jugendliche aus Kinderheimen seien planmässig und in grosser Zahl in Münsterlingen für Medikamententests missbraucht worden, erklärte Regierungsrat Walter Schönholzer.

Das Forschungsprojekt im Auftrag des Kantons dauerte dreieinhalb Jahre und kostete rund eine Million Franken. Als Quellen dienten das Archiv der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen seit 1840, der Nachlass von Roland und Verena Kuhn-Gebhart sowie Quellenbestände aus dem Konzernarchiv von Novartis Schweiz.

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