Zuwanderung Wird es ab 10 Millionen zu eng in der Schweiz?

Von Gabriela Beck

23.1.2023

Wie viele Menschen sollen in der Schweiz leben? Volle Strassencafés und Restaurants, hier am Bärenplatz im Stadtzentrum von Bern.
Wie viele Menschen sollen in der Schweiz leben? Volle Strassencafés und Restaurants, hier am Bärenplatz im Stadtzentrum von Bern.
imago images/H. Tschanz-Hofmann

Zum Auftakt des Wahljahres hat die SVP die Zuwanderungsdebatte wieder lanciert. Doch was bedeutet es wirklich, wenn die Schweiz bald auf eine Bevölkerung von 9, 10 oder gar 11 Millionen anwächst?

Von Gabriela Beck

23.1.2023

Die 10-Millionen-Schweiz – ein Begriff, den die SVP gern als Katastrophenszenario nutzt ­– mag sich für viele Babyboomer oder Generation-X-Zugehörige, welche die Schweiz immer noch als ein 6- oder 7-Millionen-Land in ihren Köpfen haben, als etwas potenziell Gefährliches anhören.

Fakt ist: Die Schweizer Bevölkerung wächst unaufhörlich. Und ja, in erster Linie ist das auf die Zuwanderung zurückzuführen.

Für das Jahr 2022 dürfte die Nettozuwanderung gemäss dem Staatssekretariat für Migration bei über 80'000 Personen liegen. Die rund 60'000 Ukrainer*innen mit Schutzstatus sind dabei nicht eingerechnet. Zum Vergleich: Ohne Zuwanderung beläuft sich das sogenannte natürliche Bevölkerungswachstum in der Schweiz im Jahr 2022 auf rund 18'000 Personen. Berechnet wird es aus der Anzahl Geburten minus Todesfälle.

Seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU vor gut 20 Jahren ist die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz um über 1,5 Millionen auf 8,9 Millionen gestiegen.

Erste Folgen sind bereits im Alltag spürbar: Staus auf den Autobahnen, volle S-Bahnen und ausgebuchte Restaurants.

SVP will mit Initiative Bevölkerung unter 10 Millionen halten

Thomas Aeschi, der Fraktionschef der SVP im Bundeshaus, will deshalb in den nächsten Monaten zusammen mit den Nationalräten Thomas Matter, Mike Egger und Manuel Strupler eine sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative lancieren, berichtete die NZZ von der Kadertagung der Partei vergangene Woche.

Die SVP-Politiker fordern, dass der Bundesrat insbesondere im Asylwesen und beim Familiennachzug politische Verschärfungen beschliessen müsse, sollte die Schweiz eine Bevölkerungszahl von 9,5 Millionen erreichen. Damit will die SVP verhindern, dass die Bevölkerung in der Schweiz vor dem Jahr 2050 auf mehr als 10 Millionen Menschen ansteigt. Gegebenenfalls müsste das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union und der Uno-Migrationspakt gekündigt werden.

Für die SVP ist zudem klar: Die Zuwanderung ist verantwortlich für Zersiedelung, Wohnungsnot und Dauerstau. Doch damit macht sie es sich zu einfach. Richtig ist: Mehr Menschen brauchen mehr Platz.

Während die Bevölkerung seit 1991 um 31 Prozent gestiegen ist, hat die Wohnungsfläche um 54 Prozent zugenommen. Auf 44,55 Quadratmeter pro Bewohner*in eines Mehrpersonenhaushalts ist die durchschnittliche Wohnfläche bei den Einheimischen gestiegen. Ausländer*innen begnügen sich laut BfS-Statistik im Durchschnitt mit 31 Quadratmetern.

New York anstelle von Zürich: 15 Millionen möglich

Laut Lukas Rühli vom Thinktank «Avenir Suisse» verkraftet die Schweiz problemlos auch 10 oder 11 Millionen Einwohner, ohne dass dies zwangsläufig negative Folgen haben müsse. «Die Frage ist nicht, ob das gestaltbar ist, sondern wie man das gestaltet», sagt er dem SRF.

Betreff Wohnraumproblematik schlägt Rühli eine weitere Verdichtung des urbanen Raumes vor. Also dort, «wo die Bevölkerung ohnehin schon ein dichteres Zusammenleben akzeptiert – und es sogar als Teil der Lebensqualität gilt». So könne auch eine Zersiedelung der Berggebiete verhindert werden.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Würde man die Stadt New York – die weniger als die Hälfte der Fläche des Kantons Zürichs einnimmt – an die Stelle der Stadt Zürich setzen, zählte die Schweiz schon 15 Millionen Einwohner.

Voraussetzung für eine koordinierte Siedlungsplanung sei allerdings eine bessere Zusammenarbeit der Gemeinden und Kantone bei der Raumplanung.

Mobility Pricing als Lösung für Dauerstau

Um die Stauproblematik zu lösen, plädiert Avenir-Mann Rühli im Gespräch mit dem SRF für eine gleichmässigere und effizientere Nutzung und Auslastung der bestehenden Kapazitäten durch Mobility Pricing, also benützungsbezogene Abgaben für Infrastrukturnutzung und Dienstleistungen im Individual- und im öffentlichen Verkehr. Die Idee dahinter: Jeder Verkehrsteilnehmer trägt die ganzen Kosten, die er verursacht. Dass das System funktionieren kann, hat eine erste Wirkungsanalyse am Beispiel der Region Zug gezeigt.

Wie dies genau umgesetzt werden könnte, ist allerdings noch nicht klar. Doch auch der Bund sieht Mobility Pricing als Chance für ein effizienteres Verkehrssystem und unterstützt deshalb laut dem Bundesamt für Strassen ASTRA Machbarkeitsstudien zur weiteren Konkretisierung von Mobility-Pricing-Projekten.

Zuwanderung als Fachkräftepuffer

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat gerade erst die neusten Zahlen zum Schweizer Arbeitsmarkt publiziert. Demnach befand sich die Arbeitslosenquote in der Schweiz 2022 auf dem tiefsten Stand seit 20 Jahren. Mit saisonal bereinigten 1,9 Prozent liegt sie weit unter dem Niveau der Euro-Zone. Ein Drittel der vom Bundesamt für Statistik befragten Unternehmen bekundet Mühe, Fachkräfte zu finden – ob solche mit höherer Berufsbildung oder geringer Qualifizierte.

Pfleger*innen, Kellner*innen und IT-Spezialist*innen aus dem Ausland lindern den Fachkräftemangel etwas. «Dank der Zuwanderung ist der Personalmangel hierzulande kleiner als in anderen Ländern», sagt Martin Neff, Chefökonom der Raiffeisenbank zur «Handelszeitung».

Und nicht zu vergessen: Zugewanderte Arbeitskräfte zahlen Steuern, konsumieren und investieren auch in der Schweiz. Der Kuchen wird grösser, diagnostiziert das Blatt. Wenn sich allerdings mehr Leute den grösseren Kuchen teilen müssten, blieben am Ende die Stücke gleich gross. Ein Umstand, über den sich Ökonom*innen seit Jahren streiten würden.

Aber: Wir arbeiten heute im Durchschnitt weniger als vor dreissig Jahren, verdienen aber trotzdem mehr, betont Boris Zürcher, Leiter des Direktoriums für Arbeit beim Seco, in der «Handelszeitung». Auch das sei Fortschritt. Ermöglicht habe dies die Zuwanderung.

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