Gefahr für die AugenSchweizer Polizeikorps halten trotz Kritik an Gummischrot fest
phi
25.11.2023
Die Schweiz ist in Westeuropa offenbar das einzige Land, das Gummischrot einsetzt. Im Gegensatz zum Wurfgeschoss gibt es eine Streuung, die einen das Augenlicht kosten kann. Der Einsatz wird nicht einmal dokumentiert.
P. Dahm
25.11.2023, 00:00
phi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Schweiz ist offenbar in Westeuropa das einzige Land, das noch Gummischrot einsetzt.
Auch das Hochkommissariat für Menschenrechte kritisiert ihren Einsatz als zu wenig zielgerichtet.
Im Gegensatz zum Wurfgeschoss streut Gummischrott stark. Dutzende haben dadurch schon ihr Augenlicht eingebüsst.
Folgende Regeln gelten für die Polizei bei einem Einsatz.
Während die Polizei im benachbarten Ausland Wuchtgeschosse gegen gewalttätige Demonstrierende oder randalierende Sport-Fans verschiesst, setzten die Schweizer Behörden immer noch auf Gummischrott. Damit ist sie eine Ausnahme: «Ein flächendeckender Gummischrot-Einsatz ist mir aus keinem anderen westeuropäischen Land bekannt», sagt Tim Willmann von der Universität Bern dem SRF.
Das Problem am Gummischrott ist die unberechenbare Streuung der Projektile: 28 oder 35 Hartgummiprismen oder Kügelchen, die in Kegelform fliegen. «Der Streudurchmesser bei 20 Metern Distanz liegt zwischen drei und vier Metern», erklärt Beat Kneubuehl dem SRF. Der Ballistiker erstellt für die Polizei Gutachten zu dem Einsatz dieser Munition.
Sein Fazit: «Bei allen Gummischroten dieser Art ist im ganzen Distanzbereich bei einem Treffer mit dem Verlust des Auges zu rechnen.» Auch das Hochkommissariat für Menschenrechte der UNO kritisiert: «Munition, die mehrere Projektile auf einmal abfeuert, ist ungenau und kann den Prinzipien von Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit grundsätzlich nicht entsprechen.»
Welche Vorgaben hat die Polizei für den Einsatz?
Die Polizei soll beim Einsatz von Gummischrott auf den Oberschenkel zielen und einen Mindestabstand von 20 Metern einhalten, sofern nicht das eigene Leib und Leben gefährdet sind.
«Gummischrot setzen wir ein, um Distanz zu schaffen zu einer womöglich gewalttätigen Gruppierung», sagt Michael Bettschen, Gesamteinsatzleiter der Kantonspolizei Bern. Dabei gebe es drei Kriterien: «Braucht es diesen Mitteleinsatz? Wird das richtige Mittel verwendet? Wird es der Situation gerecht?»
Die Alternative zur Polizei-Taktik, randalierende Demonstranten auf Abstand zu halten, wäre ein Nahkampf mit dem Schlagstock mit noch mehr Verletzungen, gibt Mark Burkhard zu Bedenken, Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und – kommandanten der Schweiz (KKPKS).
Im Kreuzfeuer
Wie oft Gummischrott in der Schweiz eingesetzt wird, erfassen die Polizeikorps höchstens intern. Offizielle Zahlen gibt es nicht, kritisiert Tim Willmann. Der Jurist möchte wissen: «Was sind die Gründe für einen Einsatz, wie viele Verletzungen hat es gegeben, und was war der polizeiliche Auftrag für den Einsatz?»
Zahlen sind also rar. Mit Blick auf Augenverletzungen sind seit den 80er Jahren 29 Fälle dokumentiert. Seit Veröffentlichung des Berichts wurden fünf weitere Fälle bekannt, schreibt das SRF – und lässt auch drei Betroffene zu Wort kommen, die versichern, keine Straftaten begangen zu haben, und dennoch ihre Sehraft durch Gummischrott eingebüsst haben.
Auch die «Republik» hat über derartige Fälle berichtet – und schildert einen Fall, der aber offenbar glimpflich ausgegangen ist. Es geht um einen unbewilligten Protest von rund 200 Personen am 8. März am Welt-Frauentag in Basel.
Habe die stellen mit dem Gummischrot ein bisschen hervorgehoben und AI upscaled. pic.twitter.com/yGi7LQrnt4
Ein Video auf X zeigt, wie die Polizei aus nächster Nähe Gummischrot auf die Demonstrierenden abfeuert. Er ist aus einem Mehrzweckwerfer GL06 abgefeuert worden, für den ein Mindestabstand von fünf Metern gilt.