Ernüchterung am Tag der Pflege «Solange der Bund nichts macht, machen auch die Kantone nichts»

Von Lia Pescatore

12.5.2022

Verschärfung statt Erholung: Die Annahme der Pflegeinitiative zeigt noch wenig Wirkung, bemängeln die Pflegenden. 
Verschärfung statt Erholung: Die Annahme der Pflegeinitiative zeigt noch wenig Wirkung, bemängeln die Pflegenden. 
Keystone

Ein halbes Jahr nach der Annahme der Pflegeinitiative protestieren die Betroffenen wieder – zu wenig habe sich seit dem Ja getan. Vorerst sind die Aktionen auf einzelne Kantone und Betriebe beschränkt.

Von Lia Pescatore

12.5.2022

Im November hat das Volk ein klares Zeichen gesetzt, die Pflege muss reformiert werden. Die Corona-Pandemie hatte der Branche viel Aufmerksamkeit und der Thematik damit grossen Aufwind beschert, die Erleichterung nach der Annahme war gross – doch das Aufatmen hielt nicht lange an.

Der Personalmangel habe sich in den letzten Monaten noch verschärft, vermeldet der Berufsverband der Pflegefachpersonen (SBK) heute. Im ersten Quartal seien tausend Stellen mehr unbesetzt als Ende 2021. Heute, knapp ein halbes Jahr nach der Annahme der Initiative, wollen die Pflegenden den internationalen Tag der Pflege nutzen, um ihren Forderungen nochmals Nachdruck zu verleihen: Sie fordern sofortige Massnahmen von Kantonen, Gemeinden und Arbeitgebern, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. 

Auch Annina Bosshard, Co-Präsidentin des Verbands «Swiss Nursing Students» (SNS), wird sich am Nachmittag einer der Demonstrationszüge anschliessen. Knapp sechs Monate nach der Abstimmung spürt sie die Ernüchterung im Team auf der Arbeit, aber auch unter den Studienkollegen. «Bei den Arbeitsumständen hat sich bisher nichts getan», für sie jedoch keine grosse Überraschung. Schon kurz nach der Abstimmung sprach sie im Gespräch mit blue News von einem Marathon, keinem Sprint, den die Pflegenden hinlegen müssten. 

So sieht der Umsetzungsfahrplan aus

  • Der Bundesrat will die Initiative in zwei Etappen umsetzen.
  • Im Sommer soll ein erstes Paket im Parlament behandelt werden.
  • Geht es nach dem Bundesrat und der zuständigen Ständeratskommission, sollen darin die Ausbildungsoffensive und die direkte Abrechnung von Leistungen der Pflegenden behandelt werden.
  • Die Gesundheitskommission des Nationalrats will als ersten Schritt hingegen nur die Ausbildungsoffensive behandeln.
  • Mehr Zeit lassen wollen sich der Bundesrat und die Kommissionen mit den Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Abgeltung der Pflegeleistungen.

Erstes Paket kommt im Sommer ins Parlament

Dass nun so viele Pflegende trotz Annahme der Initiative ihre Stelle aufgeben, sei für Bosshard zwar ernüchternd, gleichzeitig gebe es ihr neue Kraft, für die Zukunft der Pflege einzustehen. «Die meisten Menschen wählen diesen Beruf, weil es ihr Traum ist.» Es müssten alle mithelfen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, dass diese auch den Traumberuf ausüben könnten.

Der Bund hat im Januar seinen Fahrplan präsentiert: Im Sommer soll die Ausbildungsoffensive und die erweiterte Autonomie, also die Möglichkeit für Pflegende, Leistungen selbstständig abzurechnen, im Parlament behandelt werden. Dabei handelt es sich um das Paket, das im indirekten Gegenvorschlag geschnürt wurde. Die besseren Arbeitsbedingungen will der Bund in einem weiteren Schritt angehen. 

Die Befürchtung, dass die Arbeit, die in den indirekten Gegenvorschlag gesteckt wurde, mit der Annahme der Initiative zunichte wäre, hat sich also nicht bewahrheitet. Markus Stadler, Befürworter des Gegenvorschlags und diplomierter Pflegefachmann, begrüsst so auch, dass als Erstes die Ausbildungsoffensive angegangen werde. «Es ist unbestritten, dass diese an den Anfang gehört.»

Interesse am Pflegeberuf lässt wieder nach

Was den Nachwuchs anbelangt, hatte die Corona-Pandemie einen positiven Nebeneffekt, wie die Nationale Dachorganisation der Arbeitswelt Gesundheit (OdASanté) letzte Woche bekannt gab: 10'434 Personen hätten letztes Jahr eine Ausbildung im Pflegebereich ergriffen, das seien fünf Prozent mehr als im Jahr zuvor. 

Doch die Welle hat nicht lange angehalten: Das Interesse sei bereits wieder etwas rückläufig, sagt Markus Stadler, der an einer Schweizer Fachhochschule unterrichtet. «In diesem und wohl auch in den Folgejahren befinden wir uns, schweizweit gesehen, bei der Anzahl von Berufsinteressentinnen und -interessenten wieder auf durchschnittlichem Niveau.»

«Die meisten Menschen wählen diesen Beruf, weil es ihr Traum ist.»

Annina Bosshard

Co-Präsidentin Swiss Nursing Students

Auch Bosshard hat einen «kurzen Peak» festgestellt, doch ohne nachhaltige Wirkung. Damit die Ausbildungsoffensive möglichst schnell starten könne, müssten nun die Kantone ansetzen. «Sie müssen jetzt einen Sprint hinlegen und Gas geben.»

Erste Kantone haben bereits Massnahmen angekündigt, der Kanton Zürich hat sie bereits beschlossen: Vier Millionen Franken sollen in die Weiterbildung investiert werden, entschied er im Februar. Zwischen dem 1. April 2022 und dem 31. Januar 2024 seien zudem die Nachdiplom-Studiengänge für Intensiv- und Notfallpflege kostenlos. Andere Kantone hingegen warten ab. 

Das sei inakzeptabel, sagt Bosshard vom Verband «Swiss Nursing Students», der dem SBK angegliedert ist. Auch SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi sieht die Kantone im Zugzwang: «Die Haltung, auf den Bund zu warten, ist gefährlich», wird sie in einer Medienmitteilung zitiert. Michael Jordi, Generalsekretär der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz, entgegnet hingegen auf die Kritik letztens in der Tagesschau, die Kantone bräuchten zuerst die bundesrechtlichen Vorgaben, wohin das Geld überhaupt fliessen soll, bevor sie Massnahmen ergreifen können.

Aktionen nur «gut gemeinte Einzelaktionen»

Stadler hingegen sieht die Verantwortung der Verzögerungen beim SBK selbst. Dieser habe darauf beharrt, dass die Vorlage in der Verfassung verankert werde. Die Folgen seien erwartbar gewesen: «Solange der Bund nichts macht, machen auch die Kantone nichts.» Das koste Zeit, «Zeit, die wir eigentlich nicht haben». Eine Expressinitiative gebe es nicht. 

Auch die Initiativen einzelner Kantone und Betriebe könnten hier keine Abhilfe bringen. Das Vorpreschen sieht er als «gut gemeinte Einzelaktionen», doch langfristige Lösungen böten diese nicht. «Betriebe locken mit verkürzten Arbeitszeiten, doch wer soll dann die somit fehlenden Stunden übernehmen?»

Die Institutionen müssten endlich «von ihrem hohen Ross» heruntersteigen, sagt Bosshard. Sie selbst ist als frisch diplomierte Fachpflegeperson auf dem Arbeitsmarkt stark gefragt, doch zu spüren bekommt sie etwas anderes. «Häufig geben die Arbeitgeber einem das Gefühl, dass man ersetzbar sei.»

«Ein harmonisches Miteinander zum Wohle der Pflegefachpersonen ist eine Illusion.»

Markus Stadler

Diplomierter Pflegefachmann und Fachdozent

«Die Institutionen setzten lieber auf Personalvermittlungen, um Lücken zu besetzen, anstatt dem festangestelltem Personal bessere Arbeitsbedingungen zu bieten.» Dabei koste eine temporär beschäftigte Person aus der Personalvermittlung ein Mehrfaches als eine angestellte Person. Darum müssten auch die Institutionen mit den Ressourcen haushälterischer umgehen, «wir können es uns nicht leisten, dass noch mehr Personal geht».

Nationale Regeln oder regulierender freier Markt

Doch wo setzen die Institutionen an? Auf eine Nachfrage bei den Verbänden der Spitäler H+ und der Pflege- und Altersinstitutionen Artiset reagierte nur letzterer. Die Gestaltung möglichst guter Arbeitsbedingungen sei von den kantonalen Vorgaben, zum Beispiel den Lohnreglementen, und den finanziellen Mitteln abhängig, schreibt Monika Weder, Leiterin Bildung und Mitglied der Geschäftsleitung Artiset.

Zentrale Faktoren für eine hohe Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden seien unter anderem eine hohe Autonomie beim Arbeiten, genug Personalressourcen sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.  

Für Fachdozent Stadler liegt in der familienfreundlichen Arbeitsplanung einer der Schlüsselpunkte. Während Bosshard für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch auf nationale Regeln warten will, sieht Stadler die regulierende Wirkung im freien Markt. Betriebe, die keine kreativen Lösungen anbieten, würden bald zu den Verlierern gehören.

Auf die Initiative mag er hingegen nicht warten, denn er ist sicher: Ein «synchrones Schwingen» der Kantone und all ihrer Pflegeinstitutionen könne nie erzielt werden, zu viele Faktoren würden in diesem Netzwerk mitspielen. «Ein harmonisches Miteinander zum Wohle der Pflegefachpersonen ist eine Illusion», die Schweiz sei mit ihrem föderalistischen System nicht dafür ausgelegt. Auch die Pflegeinitiative könne daran nichts ändern.