Bringt Corona Duttis Erbe zu Fall?Verkauft die Migros Alkohol, «sägt sie am eigenen Image»
Von Anna Kappeler
6.11.2021
Kippen die Migros-Delegierten heute das Alkohol-Verbot in ihren Läden? Der Präsident des Blauen Kreuzes fände das fatal. Warum die Corona-Krise genau dazu beitragen könnte, sagt er im Gespräch.
Von Anna Kappeler
06.11.2021, 00:00
06.11.2021, 08:01
Anna Kappeler
In den Migros-Filialen gibt es keinen Alkohol zu kaufen. Das ist seit Gründer Gottlieb «Dutti» Duttweiler so. Doch heute könnte eine neue Ära beginnen. Die Delegierten entscheiden, ob das Alkohol-Verkaufsverbot aufgehoben werden soll.
Das Vorhaben stösst beim Blauen Kreuz auf Widerstand. «Zur DNA der Migros und dem Erbe von Dutti passt kein Alkohol», sagt deren Präsident Philipp Hadorn. Würde in jeder Migros Alkohol angeboten, entspräche das einem Mehrangebot in der Schweiz, was zu einem Mehrkonsum führe. «Das ist klar die Absicht der Migros, sie will ja Geld verdienen.»
Dass die Migros auf Gewinn aus sei, findet alt Nationalrat Hadorn (SP/SO) nachvollziehbar. «Aber das Blaue Kreuz weist darauf hin: Es gibt eine Viertelmillion alkoholkranke Menschen in der Schweiz», sagt er. Deren Sucht müsse nicht durch die Migros und mehr Verkaufsfläche noch gefördert werden.
«Da sägt die Migros an ihrem Image»
Hadorn weist auf einen weiteren Punkt hin: «Es gibt verschiedene Institutionen und auch Sozialhilfeämter, die bewusst Migros-Gutscheine herausgeben statt Geld. Eben weil sie wissen, dass es dort keine Suchtmittel zu erwerben gibt.» Und nein, im Denner seien diese Gutscheine nicht gültig.
Apropos Denner: «Es ist schon so, dass die Migros spätestens mit dem Kauf des Denners Grundwerte verraten hat.» Selbstverständlich dürfe sich in einem liberalen Markt jeder selber überlegen, wie er sich positionieren wolle. Doch als Migros-Kind empfindet Hadorn Alkohol und Tabakwaren als unpassend. «Da sägt die Migros an ihrem eigenen Image.»
Das sei bei 2,2 Millionen Genossenschaftern unumgänglich. Der Migros drohe, Alleinstellungsmerkmale zu verlieren.
Der Grossverteiler müsse sich rückbesinnen auf ihre von Dutti «so bauernschlau eingeführten Werte», findet auch Cary Steinmann, selbstständiger Berater für Markenstrategie. Für ihn ist klar: Finger weg von Alkohol und Tabak. «Die Migros soll weiterhin ökologisch und nachhaltig sein und beispielsweise mit dem Kulturprozent die Kultur fördern.»
Welche Rolle spielt das Coronavirus?
Heute ist nicht das erste Mal, dass die Migros-Delegierten über den Alkohol-Verkauf diskutieren. Bisher wurde die Idee verworfen. Warum jetzt schon wieder gestürmt werde, versteht Hadorn vom Blauen Kreuz nicht.
Eine Prognose über den Ausgang der Abstimmung wagt er nicht. Doch in den letzten Jahren beobachte er Liberalisierungstendenzen. Etwa, dass nun auf Autobahn-Raststätten Alkohol verkauft werde.
Komme dazu: «Vielleicht trägt auch die Covid-Krise dazu bei, dass die Leute weniger Regulierungen wollen. Und deshalb nun ein Alkohol-Verkaufsverbot womöglich eher kippen», sagt Hadorn.
Durch Corona leben alle mit viel mehr Einschränkungen und Regulierungen, «das könnte schon der Moment sein, wo plötzlich ein Verbot fällt». Einfach aus dem Wunsch heraus, nicht noch mehr Vorschriften zu haben. Die Sehnsucht nach Freiheit sei gross.
«Sieg der Vernunft»?
Die Migros wäre dann zumindest mit einer einheitlichen Linie gut beraten, nur schon aus logistischen Gründen, sagt Hadorn. «Viel Glück der Migros, wenn sie dann in der einen Region Alkohol verkauft, in der anderen aber nicht.»
Der weitere Fahrplan
Bis 3. Dezember: Stimmen mindestens zwei Drittel der DV zu, kommen die Verwaltungen und Genossenschaftsräte der zehn regionalen Migros-Genossenschaften zusammen. Und stimmen ihrerseits ab. Bis 4. Juni 2022: In denjenigen Genossenschaften, in denen mindestens zwei Drittel der Mitglieder der jeweiligen Verwaltung sowie mindestens zwei Drittel des jeweiligen Genossenschaftsrats zugestimmt haben, kommt es zu einer Urabstimmung. Im Verlauf von 2023: Nur in den Filialen, deren Mitglieder sich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen für die Aufhebung des Verbots aussprachen, könnten nun alkoholische Getränke in die Regale kommen. Regionale Unterschiede sind also möglich – vielleicht würden Filialen der Genossenschaft Luzern in Zukunft Wein verkaufen, während dies in den Supermärkten der Genossenschaft Ostschweiz weiterhin nicht gestattet wäre.
Und, eben, es könne auch das Gegenteil passieren: «Durch Corona haben wir alle gelernt, dass gewisse Einschränkungen sinnvoll sind. Und mit dieser Argumentation könnte man genauso gut am Alkohol-Verbot in der Migros festhalten.» Darauf hofft Hadorn: «Ein Sieg der Vernunft.»