Gründungsmythen Warum wir die Schweiz auch am 12. September feiern könnten

Von Philipp Dahm

1.8.2023

Angenommen am 1. September 1848: die Bundesverfassung mit allegorischer Figurengruppe.
Angenommen am 1. September 1848: die Bundesverfassung mit allegorischer Figurengruppe.

Der 1. August ist als Bundesfeiertag nicht unumstritten: Früher war 1315 das richtige Datum, dann war es 1307 – und schliesslich überholt 1291 die Geschichtsschreibung. Weil man runden Geburtstag feiern wollte.

Von Philipp Dahm

1.8.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der Schweizer Nationalfeiertag ist der 1. August, das hat Tradition. Doch so ganz einfach war die Festlegung auf dieses Datum nicht.
  • Der Historiker Aegidius Tschudi hatte den Gründungstag der Schweiz noch auf den 8. November 1307 festgelegt.
  • Auch der 9. Dezember 1315 wäre ein sehr geeignetes Datum für einen nationalen Feiertag: Damals unterzeichneten die Urkantone den Bundesbrief von Brunnen. 
  • Wie die Schweiz zum 1. August als Nationalfeiertag gefunden hast, erfährst du im Artikel.

Am 1. August 1291 gibt es nichts zu rütteln. Damals legen die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden den Rütlischwur ab und schreiben ihr Bündnis im Bundesbrief fest. Dieser Nationalfeiertag hat eine unverbrüchliche Tradition.

Vor 150 Jahren sah das aber noch ganz anders aus. Als hierzulande über einen Nationalfeiertag nachgedacht wurde, galt ein anderer Tag als Gründungsdatum der Schweiz. Aegidius Tschudi hatte ihn Mitte des 16. Jahrhunderts festgelegt: Der erste Schweizer National-Historiker datierte ihn auf Mittwoch vor Martini, also den 8. November, im Jahr 1307.

Doch das war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein praktischer Termin. Ein Dokument, das erst Mitte des 18. Jahrhunderts im Schwyzer Kantonsarchiv wiederentdeckt wird, hat ein passenderes Datum: Es legt «Anfang August» 1291 ein Bündnis zwischen den Urkantonen fest.

1291 löst 1307 ab

Besonders die Berner freuten sich, die das 700-jährige Bestehen ihrer Stadt 1891 mit der 600-Jahr-Feier der Schweiz kombinieren wollten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mit Dokumenten, Unterschriften oder Daten «flexibel umgegangen» wird – im Mittelalter wie in der Neuzeit.

Das Jahr 1307 blieb jedoch weiterhin für viele die wahre Geburtsstunde der Schweiz. Das Datum prangt etwa auf dem Telldenkmal in Altdorf, das 1895 errichtet worden ist. Die Urner knüpfen also ebenfalls an eine Tradition an – mag es auch nur die der schweizerischen Sturheit sein.

Das Telldenkmal neben dem Regierungsgebäude in Altdorf im Kanton Uri: 1307. Punkt.
Das Telldenkmal neben dem Regierungsgebäude in Altdorf im Kanton Uri: 1307. Punkt.
Bild: Keystone

Der 1. August wurde erst 1899 zum Bundesfeiertag erhoben. Und auch später hielt man es mit dem Datum nicht so genau: Altdorf feierte das 600-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft daher auch konsequent im Jahr 1907, wobei eine Delegation des Bundesrates zugegen war. Diese Tradition hat bis heute dann aber doch nicht überlebt.

Unklare Quellenlage

Was ist denn an dem Bundesbrief von 1291 nicht in Ordnung? Nichts gegen den Bundesbrief – er ist nur etwas nebulös. Und das ist ja auch gar nicht ungewöhnlich, denn die Quellenlage ist nun mal nicht immer rosig, wenn es ums Mittelalter geht. 

So werden im Bundesbrief zum Beispiel Uri und Schwyz klar benannt, doch die Übersetzung «Talschaft von Unterwalden» aus dem Lateinischen ist nicht eindeutig. Ob diese Angabe das heutige Nidwalden und Obwalden umfasst, ist nicht ganz klar. Warum sich die beiden Kantone zu Unterwalden zusammenschliessen, wissen wir übrigens auch nicht.

Der Bundesbrief von 1291: Das Schwyzer Wappen (links unten) fehlt.
Der Bundesbrief von 1291: Das Schwyzer Wappen (links unten) fehlt.
Bild: Gemeinfrei

Auch warum sich die drei Waldstätte zusammenschlossen, ist nicht in Stein gemeisselt. Wahrscheinlich hatte es mit dem Konflikt mit den Habsburgern zu tun, die dem Trio die Reichsunmittelbarkeit nicht zugestehen wollten, die sie direkt dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs unterstellte.

Nicht mal der Rütlischwur ist gesichert

Und was ist mit dem Rütlischwur: «Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben»? Es sind schöne Worte, aber es sind die Worte eines Deutschen. Friedrich Schiller veröffentlicht sie 1804 in seinem «Wilhelm Tell».

Darstellung Wilhelm Tells in der Erstausgabe von Schillers Drama.
Darstellung Wilhelm Tells in der Erstausgabe von Schillers Drama.
Bild: Gemeinfrei

Dessen Geschichte recherchierte Schiller – nach einem Tipp von Johann Wolfgang von Goethe – in den helvetischen Chroniken von Aegidius Tschudi aus dem 16. Jahrhundert. Tschudi wiederum kannte sie aus dem «Weissen Buch von Sarnen», in dem der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber unter anderem die Anekdote von Tell festhielt.

Jean-Frédéric Schalls Ölgemälde «l'Héroïsme de Guillaume Tell» von 1793.
Jean-Frédéric Schalls Ölgemälde «l'Héroïsme de Guillaume Tell» von 1793.
Bild: Commons/Rama

Doch dass der Nationalheld tatsächlich existiert hat, lässt sich heute nicht belegen. Dass auch die genannten Adligen sich in keinen anderen Quellen finden lassen und dass es in Nordeuropa ähnliche Sagen gibt, spricht dafür, dass es Wilhelm Tell nie gab.

Auch der 3. Dezember 1315 ginge als passables Datum durch

Neben 1291 und 1307 spielt auch das Jahr 1315 in der Schweizer Geschichte eine grosse Rolle. In diesem Jahr eskalierte der Konflikt zwischen Habsburg und den Waldstätten, was in der Schlacht am Morgarten am 15. November in einer blutigen Niederlage von Herzog Leopold I. gipfelte.

Darstellung der Schlacht am Rathaus von Schwyz: Ferdinand Wagner erschuf das Fresko 1891.
Darstellung der Schlacht am Rathaus von Schwyz: Ferdinand Wagner erschuf das Fresko 1891.
Bild: Commons/Adrian Michael

Nach der Schlacht wurde am 9. Dezember der Bundesbrief von Brunnen ausgestellt, in dem sich die Urkantone erneut ihres Bündnisses versicherten. Er ist als erstes Schweizer Dokument auf Mittelhochdeutsch geschrieben. Von daher wäre auch der 9. Dezember 1315 sehr geeignet für einen nationalen Feiertag.

Wackere Schweiz: Nationalratspräsident Ulrich Bremi spricht an der 700-Jahr-Feier am 1. August 1991.
Wackere Schweiz: Nationalratspräsident Ulrich Bremi spricht an der 700-Jahr-Feier am 1. August 1991.
Bild: Keystone

Der Schweizer Bundesstaat mit seinen 26 Kantonen und Halbkantonen ist jedoch eigentlich ein Kind der Bundesverfassung, die 1848 erarbeitet worden ist. Sie wird am 12. September angenommen – auch wenn neben Appenzell Innerrhoden, dem Tessin und Zug auch die Urkantone Schwyz, Uri, Nid- und Obwalden die Neuerungen ablehnen. 

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