805 Jahre Stadtrecht Wie Bern sich im Mittelalter vor Zürich und Basel getrickst hat

Von Philipp Dahm

15.4.2023

Gründung von Bern als Darstellung in der Tschachtlanchronik aus dem 15. Jahrhundert.
Gründung von Bern als Darstellung in der Tschachtlanchronik aus dem 15. Jahrhundert.
Copmmons/Benedikt Tschachtlan/Adrian Michael

Vor 805 Jahren erhält Bern das Stadtrecht. Die Urkunde gilt als nachträgliche Fälschung. Das stimmt nur zum Teil, doch die Anpassung verschafft den Bernern im Mittelalter einen Vorsprung, erklärt die Expertin.

Von Philipp Dahm

15.4.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am 15. April 1218 wird Bern mit der Goldenen Handfeste, die als nachträgliche Fälschung gilt, das Stadtrecht verliehen.
  • Wissenschaftliche Datierungen belegen die Authentizität des Pergaments, aber auch, dass Teile der Urkunde jünger sind.
  • Die später addierten Passagen, die sich durch Form und Sprache verraten, erweitern die Rechte Berns entscheidend.
  • Bern verschafft sich damit im Mittelalter in Sachen Entwicklung einen Vorteil gegenüber Städten wie Zürich oder Basel.

Die «Stadtberner Verfassung basiert auf Fake News»?

Die Goldene Handfeste – bloss eine «nachträglich erstellte Fälschung»??

Hat sich das brave Berner-Volk sein Stadtrecht etwa ergaunert???

Das stimmt so nicht, weiss Barbara Studer vom Staatsarchiv des Kantons Bern, in dessen Obhut sich das mittelalterliche Dokument befindet: Sie erklärt, wie die Berner sich ohne böse Absichten einen Vorteil gegenüber den anderen Städten der Eidgenossenschaft verschafft hat.

Frau Studer, wir feiern heute das 805. Jubiläum des Berner Stadtrechts: Zelebrieren wir einen Betrug?

Nein, machen wir meines Erachtens nicht. Bern hat ja am 15. April 1218 ziemlich sicher eine solche Urkunde erhalten. Sie war wahrscheinlich einfach nicht so ausführlich: Bern hat sie dann erst später «erweitert».

Die Goldene Handfeste ist also keine Fälschung?

Die Forschung geht heute davon aus, dass Bern von Friedrich II. tatsächlich eine Handfeste erhalten hat. Das war wahrscheinlich ein sehr summarisches Dokument, das bestätigt hat, was diese noch junge, erst 27 Jahre alte Stadt, bisher an Rechten erhalten hatte.

Die Goldene Handfeste.
Die Goldene Handfeste.
Gemeinfrei

Wie gross war Bern 1218?

Die Gründungsstadt reichte damals bis zum Zytgloggeturm. Das Areal war 1218 aber wohl noch nicht vollständig besiedelt. Man muss sich bewusst sein, dass nicht Bern das Zentrum der Zähringer hier in der Gegend war, sondern Burgdorf. Die Forschung geht davon aus, dass Bern quasi als «Wirtschaftsstandort» gegründet worden war.

Wieso das?

Eine These besagt, der Grund sei die günstige Lage an der Mattenschwelle gewesen. An dem natürliche Felsabsatz konnte man mit einfachen Mitteln das Wasser kanalisieren, Mühlen aufbauen, mahlen und stampfen.

Bern hat also das Stadtrecht bekommen, sich aber noch ein paar Rechte mehr herausgenommen. Woher weiss man, welche das sind?

Eine Rechtshistorikerin hat 2017 das Dokument analysiert und konnte sprachliche Unterschiede feststellen zwischen den 1218 von König Friedrich II. verliehenen Rechten und den später hinzugefügten. Sie geht davon aus, dass diese Passagen aus älteren Privilegien und Satzungen aus Freiburg im Breisgau stammen. Freiburg war auch eine Zähringerstadt und man hatte offensichtlich entsprechende Kontakte, um sich die entsprechenden Rechtssätze zu beschaffen. Das Ganze passt aber nicht wirklich zusammen und es hat auch Fehler drin. So fehlt zum Beispiel in den neuen Passagen der Pluralis Majestatis und auch die Lateinkenntnisse der Berner waren offensichtlich nicht über alle Zweifel erhaben.

Zähringerstädte in der Schweiz und Deutschland.
Zähringerstädte in der Schweiz und Deutschland.
Commons/Christoph Lingg

Um welche Rechte geht es?

Mit dem Dokument 1218 wird Bern zur königlichen Stadt, Friedrich nahm sie also in seinen Schutz und Schirm. Das ist das Beste, was sich eine Stadt im Mittelalter wünschen kann: Man brauchte einen Herrn, der König aber ist weit weg und im Alltag nicht präsent. Die Stadt kann also recht autonom agieren. Die in der Handfeste umschriebenen Rechte sind für die Zeit ausserordentlich weitreichend.

Können Sie Beispiele nennen?

Es wird zum Beispiel festgelegt, dass Bern niemals vom Reich entfremdet werden darf oder dass die Stadt die freie Nutzung des Bremgartenwaldes und des Forstes erhält. Auch die einzelnen Bürger erhalten Rechte. So wird unter anderem festgehalten, dass niemand ohne Urteil ins Gefängnis gesteckt werden darf oder dass jedermann sein Haus nach Gutdünken verkaufen oder verschenken kann. Besonders interessant war aber das Recht, selber Satzungen zu erlassen, also Recht zu setzen. Definitiv nicht aus der königlichen Kanzlei stammt die Passage, die Bern alle Rechte, welche der Rat zukünftig noch erlassen werde, garantiert. Einen solchen Blankoscheck hätte kein König ausgestellt!

Welche Beweise für eine Fälschung gibt es abseits der sprachlichen Unterschiede?

Das Offensichtlichste ist, dass – modern ausgedrückt – das Layout nicht stimmt. Das Dokument ist in einer viel zu kleinen Schrift bis an die Ränder beschrieben. Auch die Plika, also der Falz am unteren Ende der Urkunde, ist für eine Urkunde aus der Kanzlei Friedrichs II. zu klein. Rein optisch passt die Handfeste also nicht in ein königliches Skriptorium.

Aber haben Röntgen-Untersuchungen nicht ergeben, dass das goldene Siegel echt und nicht gebrochen worden ist?

Das goldene Siegel stammt tatsächlich aus der Zeit, also von 1218. Wir wissen von anderen Urkunden, dass Friedrich. II. zwischen 1218 und 1220 mit genau so einer sogenannten Bulle gesiegelt hat. Bei dieser Bulle handelt es sich um ein ganz dünnes Goldblech-Döschen mit einer eingebauten Fälschungssicherung. Man könnte es fast vergleichen mit den Schoggitalern von Pro Patria – nur natürlich ohne Schokolade. 

Herzog Berchtold V. von Zähringen erlegt den Bären vor der Stadt Bern – Darstellung aus der Tschachtlanchronik.
Herzog Berchtold V. von Zähringen erlegt den Bären vor der Stadt Bern – Darstellung aus der Tschachtlanchronik.
Gemeinfrei

Wie funktioniert diese Fälschungssicherung?

Man muss sie sich wie einen leicht geöffneten Schirm vorstellen: Wenn man das Siegel abreisst, springt er ganz auf und lässt die Bulle platzen. Kennt man aber das System, kann ein geschickter Goldschmied die Bulle öffnen, ohne dass das Siegel zerstört wird. Bei einem Wachssiegel hätte eine Ablösung von der ursprünglichen Seidenschnur hingegen sichtbare Spuren hinterlassen.

Gibt es weitere Hinweise?

Die Geschichtswissenschaft diskutiert seit über 150 Jahren, ob die Handfeste echt oder gefälscht ist. 2008 haben wir – mehr aus einem Jux heraus – beschlossen, der Sache nun endlich auf den Grund zu gehen. Wir haben mit dem Institut für Ionenstrahlphysik der ETH Zürich Kontakt aufgenommen und um eine Datierung des Pergaments mit der C-14-Methode gebeten. Sie kamen ins Staatsarchiv und haben der Handfeste unter der Plika ein kleines Stückchen des Pergaments entnommen. Da es sich auch bei den Seidenfäden um organisches Material handelt, haben sie vorgeschlagen, auch davon etwas zu entnehmen und diese zu analysieren.

Was ist dabei herausgekommen?

Das Pergament ist eindeutig aus der Zeit: Die Ziege, aus deren Haut das Pergament hergestellt wurde, ist spätestens 1217 geschlachtet worden. Die Seidenfäden jedoch sind klar jünger und auf die Zeit nach 1218 zu datieren. Wir waren damit so klug wie zuvor. Das Ergebnis konnte unterschiedlich interpretiert werden.

Wann haben Sie die Wahrheitssuche weiter forciert?

Mit Blick auf das 800. Jubiläum vor fünf Jahren haben wir beschlossen, der Frage noch einmal nachzugehen und eine entsprechende Tagung zu organisieren. In diesem Rahmen wurde auch die ETH noch einmal kontaktiert, weil die Datierung möglicherweise noch verfeinert werden könnte. Sie haben ein Stück Holz aus der Zeit besorgt, das  dendrochronologisch aufs Jahr genau datiert werden kann, und mit dem Material der Handfeste verglichen.

Was war das Ergebnis?

Das Pergament stammt aus der Zeit zwischen 1156 und 1217, die Seidenschnur des Siegels aus dem Zeitraum 1222 bis 1266. Weil man davon ausgehen muss, dass die Ergänzungen nach dem Tod von Friedrich II. im Jahr 1250 gemacht worden sind, können wir es jetzt also auf 16 Jahre genau datieren.

Legen Sie sich fest?

Ich gehe davon aus, dass die Handfeste um 1260 herum gefälscht worden ist – plus/minus drei, vier Jahre.

Was war das Motiv?

Wir kennen aus dem Mittelalter ganz viele gefälschte Urkunden. Was die Berner gemacht haben war für die damalige Zeit üblich. Man spricht deshalb auch von einer «pia fraus», also einem frommen Betrug. Auch für den Mönch aus dem Kloster Frienisberg, der die Urkunde wahrscheinlich geschrieben hat, war das kein Problem: Man ging davon aus, dass wenn Friedrich noch leben würde, er das genauso gemacht hätte. Man hat einfach die inzwischen erreichten Zustände und Anpassungen schriftlich festgehalten.

Turm des ehemaligen Klosters Frienisberg, in dem sich heute ein Wohn-und Pflegeheim befindet.
Turm des ehemaligen Klosters Frienisberg, in dem sich heute ein Wohn-und Pflegeheim befindet.
Bild: Commons/AnBuKu

Wie beeinflussen die Stadtrechte Berns Entwicklung?

Die angepasste Handfeste mit den sehr weitgehenden Rechten ermöglichte es der Stadt Bern – im Vergleich zu anderen Städten in der Eidgenossenschaft, aber auch im heutigen Deutschland – viel früher über die Stadtgrenzen hinaus Territorien zu erwerben. Bern begann schon 100 bis 150 Jahre früher als andere Städte mit dem Erwerb von Untertanengebieten.

Bereits im Jahr 1300 konnte es mit vier Kirchgemeinden im direkten Umfeld ersten Territorialbesitz ausserhalb der Stadtmauern erwerben. 1324 kam dann die Vogtei Laupen im Westen der Stadt dazu und zehn Jahre später das mindestens einen Tagesritt entfernte Haslital. 1550 war Bern zum grössten Stadtstaat nördlich der Alpen angewachsen.

Wachstums des Territoriums bernischen Stadtstaats bis 1798.
Wachstums des Territoriums bernischen Stadtstaats bis 1798.
Commons/Marco Zanoli

Und andere Städte?

Zürich war im Mittelalter viel mächtiger, Basel viel reicher, aber sie konnten erst viel später mit dem Territorialisierungsprozess beginnen, weshalb sie viel kleiner blieben. Bern hat also, als es in den 1260er-Jahren die Handfeste «angepasst» hat, durchaus sehr geschickt gehandelt. Sie hat mit grosser Wahrscheinlichkeit dazu beigetragen, dass Bern auch heute noch einer der grössten Kantone der Schweiz ist.