Skiausflug in den Tod20 Jahre nach der Katastrophe von Kaprun
Von Matthias Röder und Ute Wessels, dpa/uri
11.11.2020
Bergungsarbeiter bei der Inspektion von Überresten der verbrannten Tunnel-Gletscherbahn am Kitzsteinhorn bei Kaprun am 16. November 2000.
Bild: dpa
Es soll ein fröhlicher Skitag in den Alpen werden, doch die Fahrt mit der Gletscherbahn in Kaprun endet an jenem sonnigen Novembertag in einer Katastrophe. Der Zug brennt aus, 155 Menschen sterben in den Flammen. Die wenigen Überlebenden leiden bis heute.
Ein Traumtag zum Skifahren. Blauer Himmel über dem Kitzsteinhorn. Dann die Hölle. Im unteren Teil der Standseilbahn bricht ein Brand aus. Die Bahn kommt im drei Kilometer langen Tunnel zum Gletscherplateau zum Stehen. Die Türen sind zu. Verzweifelt schlagen Skifahrer die Plexiglasscheiben ein. Sie zwängen sich ins Freie. Fast alle rennen instinktiv weg vom Feuer am Ende des Zuges. Sie laufen nach oben. Ein tödlicher Fehler. Die Wolke aus Rauch- und Giftgas holt sie sofort ein. Vor 20 Jahren (11. November) sterben 155 Menschen, nur zwölf überleben.
Die Katastrophe von Kaprun ist das schlimmste Unglück in Österreichs Nachkriegsgeschichte. Bis heute herrscht Leid – und die Frage, ob der Freispruch von 2004 für 16 Angeklagte wirklich das letzte juristische Wort ist.
«Eine tickende Zeitbombe»
«Die Gletscherbahn war eine tickende Zeitbombe», ist Opfer-Anwalt Gerhard Podovsovnik immer noch überzeugt. Es seien sehr viele nicht erlaubte Gegenstände an Bord gewesen. Der von der deutschen Firma Fakir hergestellte Heizlüfter «Hobby TLB», der laut Gericht das Unglück verursacht hat, sei von den Betreibern in eigener Regie umkonstruiert worden und habe so alle Zertifizierungen verloren. «Der Heizlüfter war vor dem eigenmächtigen Umbau technisch einwandfrei in Ordnung.»
Der Anwalt sieht eine gewisse Chance, das Verfahren zivilrechtlich noch einmal ins Rollen zu bringen. In Europa gebe es zwar keine Aussicht, aber über den Umweg der USA – acht Opfer stammten von da – lasse sich eventuell etwas machen. «Wenn man es darauf anlegt, ist der Vergleich auf Sand gebaut», sagt der Jurist mit Blick auf die insgesamt 16 Millionen Euro, die damals an die Angehörigen geflossen sind. Diese Vereinbarung sei nur unter dem Druck zustande gekommen, dass alle hätten unterschreiben müssen – sonst, so sieht es der Anwalt, hätte kein Hinterbliebener etwas bekommen.
Sollte sich ein Sponsor finden, der den wohl millionenteuren Prozess in den USA bezahle, «dann beauftrage ich sofort einen US-Anwalt», sagt Podovsovnik, der am Ende des Verfahrens die Angehörigen von rund 100 Opfern vertreten hatte.
Aufwühlende Erinnerungen
Auf schlimmste Art waren damals auch die Mitglieder des Ski-Clubs Vilseck aus der Oberpfalz betroffen, die auf dem Kitzsteinhorn das Pistenvergnügen geniessen wollten. Der 47-jährige Markus Hiltel leitete damals die Reisegruppe. Mit 49 Teilnehmern waren sie nach Kaprun gekommen, 20 von ihnen starben.
Hiltel ist sichtlich bewegt, als er über das Unglück spricht. Er selbst sass damals nicht in der Bahn. Aber sein Vater und seine Freundin waren an Bord. Die Freundin starb, der Vater ist einer der wenigen Überlebenden. Ein Interview will er aber nicht geben. Zu sehr wühlten ihn die Erinnerungen auf, sagt sein Sohn. Mit letzter Kraft habe sich sein Vater retten können. Weil es keine Nothämmer im Zug gab, habe der Vater mit den Skiern eine Scheibe eingeschlagen.
Markus Hiltel, Vorsitzender des Ski-Clubs Unterweissenbach, ein Ortsteil von Vilseck, steht an einem Gedenkstein in Vilseck, Bayern, für die Opfer von Kaprun. Mit 49 Männern und Frauen war er als Reiseleiter des Ski-Clubs aus der Oberpfalz im November 2000 nach Kaprun in Österreich gefahren. 20 Reiseteilnehmer kamen damals in der brennenden Seilbahn von Kaprun ums Leben.
Bild: dpa
Gemeinsam mit elf weiteren Passagieren flüchtete der heute 71-Jährige aus dem Tunnel, nach unten in Richtung Tunneleingang, wo der Rauch nicht hinzog. Fast 600 Meter mussten sie über eine Notstiege laufen – in klobigen Skistiefeln und Dunkelheit. «Sie hielten sich an einem Stahlseil fest, stürzten immer wieder», berichtet der Sohn. In der Klinik besuchte er seinen Cousin. Der habe ihm gesagt: «Ich war der Letzte, nach mir kam keiner mehr.» Das sei ein Schock gewesen. Bei der Rückfahrt im Reisebus wurde die Katastrophe durch die vielen leeren Sitze deutlich. «Wir haben den hinteren Teil mit einer Decke abgehängt, damit man das nicht so sieht», erinnert sich Hiltel.
Gletscherbahn schiesst juristisches Eigentor
Die Journalisten Hubertus Godeysen und Hannes Uhl haben in ihrem Buch «155 – Der Kriminalfall Kaprun» in aufwendiger Recherche die Katastrophe und den Prozess durchleuchtet. «Der schöne Schein der modernen Bahn trog», schreibt Godeysen nun zum 20. Jahrestag. In der 1993 umgebauten Gletscherbahn hätten die Fahrer wegen der eiskalten Zugluft erbärmlich gefroren. Die Heizlüfter seien völlig unfachmännisch eingebaut worden – direkt neben Ölleitungen. «Immer öfter drang Öl in die Lüfter und immer häufiger saugten die Ventilatoren kleine ölgetränkte Dämmfaserteilchen ein», so Godeysen. Öl und der Glühdraht eines Heizlüfters seien eine tödliche Kombination gewesen.
Doch die Kapruner Gletscherbahn AG geht nach Prozessende 2004 gegen den Hersteller des Heizlüfters vor. Der Schritt erweist sich als juristisches Eigentor. Die von den österreichischen Behörden zuständigkeitshalber ins Boot geholte Staatsanwaltschaft Heilbronn stellt 2008 in einem 54-seitigen Ermittlungsbericht eindeutig fest: «Den Beschuldigten kann weder bezüglich der Brandentstehung noch wegen des Verlaufs der Brandkatastrophe und dem damit verbundenen Tod von 155 Personen irgendein Vorwurf gemacht werden», wie es in der Ermittlungsakte heisst.
Der Heizlüfter habe alle Prüfzeichen für den von Fakir bestimmten Gebrauch gehabt, nämlich für die Verwendung als Standgerät in Wohnräumen oder Badezimmern. «Tatsächlich wurde der Heizlüfter als Einbaugerät in einem Fahrzeug verwendet» – und das gegen den ausdrücklichen Warnhinweis des Herstellers. Im Prozess hatte sich der Richter der Sichtweise der Verteidiger angeschlossen, dass die Standseilbahn kein herkömmliches Fahrzeug gewesen sei. Fakir selbst geriet infolge der Anschuldigungen an den Rand des Ruins.
«Es war das Scheitern des österreichischen Rechtssystems»
Für die Gletscherbahn Kaprun AG ist der Fall abgeschlossen. Rund 25 Jahre lang habe die 1974 in Betrieb genommene Standseilbahn, die die Skisportler in achteinhalb Minuten auf das Areal rund um das 3'200 Meter hohe Kitzsteinhorn brachte, einwandfrei funktioniert, sagt Sprecher Harald Schiffl. «Das ist eine tolle Geschichte» und eine sehr sichere Art des Transports, habe man damals gedacht.
2004 wurde eine Gedenkstätte an der Talstation errichtet. Dort treffen sich jedes Jahr – in Nicht-Corona-Zeiten – bis zu 100 Angehörige, um in einer schlichten Feier an die Opfer zu erinnern, wie Kapruns Bürgermeister Manfred Gassner sagt. Auch in Vilseck wollen am 11. November die Menschen der Toten gedenken.
Gefragt nach dem stärksten Eindruck der damaligen Gerichtsverhandlung muss Anwalt Podovsovnik nicht lange nachdenken: «Es war das Scheitern des österreichischen Rechtssystems und die Übermacht der österreichischen Skiwirtschaft.»
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