Gründung vor 105 Jahren Darum war die erste ukrainische Republik eine Totgeburt

Von Philipp Dahm

20.11.2022

Teil einer Karte der Russischen Geographische Gesellschaft, die 1914 zeigt, wo welche Sprachen im Kaiserreich gesprochen werden.
Teil einer Karte der Russischen Geographische Gesellschaft, die 1914 zeigt, wo welche Sprachen im Kaiserreich gesprochen werden.
Gemeinfrei

Am 20. November vor 105 Jahren wird die Bildung des ersten ukrainischen Nationalstaates beschlossen. Die Ukrainische Volksrepublik überdauert nur kurz – und ihre kurze Geschichte steckt voller Krieg und Kampf.

Von Philipp Dahm

Der erste ukrainische Nationalstaat wäre vor 105 Jahren nicht ohne eine Reise möglich, die in Zürich ihren Lauf nimmt. Ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow bricht am 9. April 1917 zu einer Zugfahrt auf, die ihn über Stockholm nach St. Petersburg führt.

Acht Tage später veröffentlicht der Mann dort seine Aprilthesen und löst damit einen Sturm aus, der in der Oktoberrevolution endet: Lenin fegt das Zarentum hinweg und verändert den Kontinent und insbesondere Osteuropa radikal.

Logistisch und finanziell wird Lenin vom Deutschen Kaiserreich begleitet: Nach dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» wird ihm der Weg zur Revolution geebnet. Berlin unterstützt auch Widerstand im Gebiet der Ukraine, das noch zum Russischen Kaiserreich gehört.

Der erste Ministerpräsident muss gleich fliehen

Dort bildet sich der Zentralna Rada heraus. Dieser ukrainische Zentralrat ist bürgerlich und erarbeitet in den sieben Monaten nach Lenins Aprilthesen den Plan für den ersten ukrainischen Nationalstaat, der von Russland unabhängig sein soll. Am 20. November 1917 beschliesst der Rat, die Ukrainische Volksrepublik zu gründen.

Zentralna-Rada-Gebäude in Kiew (weiss) mit einem Denkmal für den ersten Vorsitzenden des Zentralrats, Mychajlo Hruschewskyj.
Zentralna-Rada-Gebäude in Kiew (weiss) mit einem Denkmal für den ersten Vorsitzenden des Zentralrats, Mychajlo Hruschewskyj.
Commons/Nick Grapsy

Der Bürgerkrieg im Russischen Kaiserreich, der 1922 in der Sowjetunion mündet, spiegelt sich in der jungen Ukraine wider. Noch im Dezember 1917 heben ukrainische Bolschewisten in der Region um Charkiw die Ukrainische Volksrepublik der Sowjets aus den Angeln, die sich als autonomer Teil der Sowjetrepublik versteht.

Die bürgerliche Volksrepublik wird am 25. Januar 1918 in Kiew offiziell ausgerufen. Fünf Tage später wird Wsewolod Holubowytsch der erste Ministerpräsident des Landes. Er fungiert gleichzeitig als Aussenminister. Sein Problem: Der neugegründete Staat befindet sich faktisch mit Sowjetrussland im Krieg.

Karte der Ukrainischen Volksrepublik aus dem Jahr 1919.
Karte der Ukrainischen Volksrepublik aus dem Jahr 1919.
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«Brotfrieden» bewirkt kein Ende der Kämpfe

Die Bolschewiki erobern immer mehr ukrainisches Gebiet – und nehmen am 8. Februar 1918 Kiew ein. Holubowytsch ist derweil in Brest-Litowsk in Belarus, um wie auch die Sowjets mit den Mittelmächten, also dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich, über einen Waffenstillstand zu verhandeln.

«Mitglieder der ukrainischen Delegation im Gespräch mit deutschen Offizieren»: Postkarte aus dem Jahr 1918.
«Mitglieder der ukrainischen Delegation im Gespräch mit deutschen Offizieren»: Postkarte aus dem Jahr 1918.
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Am 9. Februar schliesst der junge Staat den «Brotfrieden« ab. Der Name rührt daher, dass die Ukraine Deutschland und Österreich Getreide und weitere Nahrungsmittel liefern soll. Im Gegenzug sollen deutsche und österreichische Truppen Stabilität und Schutz des Landes garantieren. In dem Vertrag wird der Ukraine auch der Kreis Cholm zugeschlagen, der bis dato polnisch war.

«Der Friede mit der Ukraine»: Postkarte aus dem Jahr 1918.
«Der Friede mit der Ukraine»: Postkarte aus dem Jahr 1918.
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Weil die Friedensverhandlungen zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten aber nicht vorankommen, landen mehr Truppen in der Ukraine, als deren Bevölkerung lieb ist: 500'000 Soldaten werden bei der Operation Faustschlag gen Osten bewegt. Es kommt zu Gefechten auf ukrainischem Gebiet, die die Bolschweiki an den Verhandlungstisch zwingen.

Truppen aus Österreich-Ungarn ziehen im Februar 1918 in Kamjanez-Podilskyj ein.
Truppen aus Österreich-Ungarn ziehen im Februar 1918 in Kamjanez-Podilskyj ein.
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Grossgrundbesitzer als Berlins Statthalter

Lenin schliesst am 3. März Frieden mit den Mittelmächten – und erkennt die Unabhängigkeit der Ukraine an. Am selben Tag erobern deutsche Truppen Kiew, marschieren am 19. März in Donezk und am 8. April in Charkiw ein. Soldaten aus Österreich-Ungarn nehmen am 19. März Odessa ein. In Polen regt sich wegen der Abtretung Cholms derweil Widerstand – und auch die Ukrainer*innen beginnen, sich mit Partisanen der Besatzer zu erwehren.

Deutsche Soldaten im März 1918 in Kiew.
Deutsche Soldaten im März 1918 in Kiew.
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Die deutsche Militärverwaltung reagiert am 28. April mit der Verhaftung von Ministerpräsident Golubowitsch und setzt den Grossgrundbesitzer Pawlo Skoropadskyj als Strohmann ein. Er bekommt den Titel Hetman, was altmitteldeutsch für Hauptmann steht, und baut den ukrainischen Staat alias Hetmanat mit einem strengen Regime auf. Der Zentralna Rada wird aufgelöst.

Die Herrschaft währt jedoch nur kurz. Die Mittelmächte verlieren an der Westfront endgültig den Ersten Weltkrieg, der am 11. November 1918 besiegelt ist. Der Widerstand in der Ukraine wittert Morgenluft: In der Nacht vom 13. auf den 14. November treffen sich führende Köpfe in Bila Zerkwa, um das Hetmanat zu stürzen. 

Im Januar 1919 übernehmen die Bolschewiken

Sozialisten, Sozialdemokraten und frühere Mitglieder der Zentralna Rada gründen das Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik. Ihr bewaffneter Kampf dauert wegen des Abzugs der fremden Truppen lediglich einen Monat: Am 14. Dezember übernimmt das Direktorium die Macht. Skoropadskyj versteckt sich vorerst, bevor er nach Deutschland flieht.

Das Direktorium kann sich jedoch nicht durchsetzen. Bolschewiki erobern Kiew und rufen am im Januar 1919 die Ukrainische Sowjetrepublik aus. Die Volksrepublik ist damit Geschichte. Polnische Truppen marschieren derweil in die Westukraine ein und besetzen Lwiw.

Bügerlich-liberale Strukturen lösen sich auf und sind spätestens verschwunden, als die Rote Armee im Februar 1920 das gesamte Land besetzt. Die Armee der Volksrepublik Ukraine schlägt sich auf die Seite der Polen, die noch bis 1921 Krieg gegen die Sowjets führen, den sie jedoch verlieren.

Die Ukrainische Volksrepublik, die am 20. November 1917 beschlossen und am 25. Januar ausgerufen wird, hat keine Chance. Sie überlebt nur ein Jahr, ist zwischen April und Dezember fremdbestimmt, und geht mit dem Siegeszug der Roten Armee schon im Januar 1919 wieder unter. Bei Nationen nennt man sowas eine Totgeburt.