30. Todestag des KGBDie Schweiz war lange Hotspot russischer Spione – und ist es immer noch
Von Philipp Dahm
5.11.2021
Am 6. November 1991 wurde der KGB aufgelöst. Zur Schweiz hat der sowjetische Geheimdienst stets ein besonders «enges» Verhältnis gehabt. Wir nähern uns dem Agenten-Phänomen durch vier historische Fälle an.
Von Philipp Dahm
05.11.2021, 18:01
05.11.2021, 18:17
Philipp Dahm
Vom 19. bis zum 21. August 1991 versuchen Mitglieder der KPdSU, den sowjetischen Präsidenten abzusetzen. Zwei Tage später wird Wadim Bakatin an die Spitze des KGB beordert. Sein Auftrag: Der frühere Innenminister soll den Geheimdienst auflösen, der an dem gescheiterten Putsch beteiligt war.
Heute vor 30 Jahren erfolgt die Exekution: Am 6. November 1991 wird der Dienst aufgelöst und am 3. Dezember neu organisiert. 67 Jahre haben Moskaus Spione Angst verbreitet und Informationen eingeholt. Die Schweiz hat bei der Arbeit der Agenten stets eine wichtige Rolle gespielt.
Das hat verschiedene Gründe: Von der geografischen Lage über die Neutralität bis hin zu diversen internationalen Organisationen und auch Unternehmen gab es für den KGB genug gute Gründe, hierzulande präsent zu sein.
30 Jahre nach dem Ende der Organisationen stellen sich einem da natürlich Fragen. Wie viele Agenten waren bei uns stationiert? Wie viele Einsätze hatten sie und wie viele Menschen haben sie hierzulande erpresst, bedroht oder angeworben?
Wer Antworten will, hat vergessen, worum es geht: Der KGB war alles andere als ein öffentlicher Dienst und das Fehlen des Service public geht mit einem Mangel an Zahlen und Fakten einher. Geheimnisvoll geht eben anders. Dem Phänomen KGB können wir uns höchstens annähern – mit fünf Episoden aus der Schweiz.
Die vertrauliche Brandrede 1964
Wir schreiben das Jahr 1964. Die Welt erholt sich zögerlich von der Kuba-Krise, durch die der Planet zwei Jahre zuvor am Rand eines Atomkriegs stand. Am 3. September beginnt in Bern die Botschaftertagung und einen Tag später hören die Diplomaten einen vertraulichen Vortrag von Oberstleutnant Jakob Kern über «Sicherheitsprobleme» der Schweiz.
Kern erklärt, die Sowjetunion wende jährlich eine Summe von 600 Millionen Franken für seine Geheimdienste auf, was heute gut 2,1 Milliarden Franken entspricht. 250'000 Personen arbeiten demnach für die Sowjet-Spione, was die Abwehr für die Schweiz schwierig mache. Das wichtigste Werkzeug der Spione seien die «drahtgebundenen und drahtlosen Abhörmittel», warnt der Offizier.
Grundsätzlich unsicher seien Telefongespräche über örtliche Zentralen, erinnert Kern die Zuhörer. Wanzen lauerten nicht nur im Telefon, sondern auch in Wänden oder in Geschenken. «Zum Beispiel eine Zierschachtel für Rauchwaren mit doppeltem Boden», so die Erklärung.
Etwa in der Schweizer Botschaft in Moskau: «An verschiedenen Orten haben wir Abhöreinrichtungen entfernt, deren Leitungen und Verteilanlagen vollständig eingemauert waren und unterirdisch bis zum nächsten Telefonkabelschacht weggeführt wurden.»
Noch mehr Sorgen machen dem Militär jedoch die «Radio-Mikrofone», die «ferngesteuert nach Bedarf ein- und ausgeschaltet» werden können. Berichte, nach denen Personen «auf mehrere 100 Meter auf der Strasse belauscht» werden können, entbehren dagegen «nicht einer gewissen Sensation».
Was also sollen die Schweizer Diplomaten tun? Leise sprechen, Orte und Personen nur um- oder aufschreiben, statt sie zu benennen, und «verdächtige ‹Geschenke› ausser Hör-Reichweite legen». Um ein Fotografieren oder Kopieren geheimer Akten zu erschweren, sollte auf Zäune, Beleuchtung, Kontrollen und gute Schlösser gesetzt werden.
Schlykows Verhaftung in Zürich 1983
1983 kracht es nicht nur zwischen den beiden Blöcken im Kalten Krieg, nachdem die USA in Deutschland Pershing-II-Raketen stationieren und das SDI-Programm alias «Star Wars» ankündigen. Die Nato-Militärübung Able Archer 83 mündet im November auch noch fast in der Auslöschung der Erde.
Die Spannungen sind auch in der Schweiz zu spüren: Anfang Juli weist Bern nicht nur den russischen Vize-Konsul aus Genf wegen technischer und wirtschaftlicher Spionage aus, sondern schliesst auch die Vertretung der Nachrichtenagentur Novosti in Bern. Ein Journalist und ein Diplomat, die die Friedensbewegung aufgestachelt haben sollen, werden des Landes verwiesen.
In Zürich steigt am 25. Januar 1983 der KGB-Agent Witali Schlykow unter dem Namen Michail Nikolajew im Zürcher Hotel Limmathaus ab. Der Russe ist mit der Schweizerin Ruth Johr verabredet. Sie ist mit dem gebürtigen Deutschen Dieter Gerhardt verheiratet, der im Dienste der Marine Südafrikas steht. Sie spioniert für die Stasi, er für den KGB.
Schlykow ist mit Johr am Kunsthaus verabredet: «Die Trams kommen aus allen Richtungen. Da ist es leicht, abzuhauen», sagt er ein Vierteljahrhundert später dem «Beobachter». Er hat frische Mikrofilme und 125'000 Franken dabei, die er gegen Informationen über Südafrikas Nuklearprogramm eintauschen will.
«Meine Arbeit war einfach: Ich traf Agenten und beschaffte von ihnen Dokumente im Tausch gegen andere. Ich vermied jeden Kontakt mit Sowjetbeamten, war wie eine Nadel im Heuhaufen», erklärt Schlykow. Er weiss nicht, dass Gerhardt fünf Tage vorher mit seiner Frau in den USA verhaftet worden ist – und ihn verraten hat.
15 Jahre hat der Russe Kontakt zu dem Spion-Paar gehalten. Oft trafen sie sich in der Schweiz: Das «war praktisch, weil Ruth Gerhardt aus Basel stammte. Die Gerhardts reisten in die Schweiz, um angeblich ihre Angehörigen zu besuchen, und fuhren dann, mit falschen Identitäten, nach Moskau, wo ich sie empfing».
Bern gibt Schlykows Daten nicht an Washington weiter: Nach einer dreijährigen Haft, von der er zwei Jahre absitzt, kann der Agent wieder zurück in seine Heimat reisen und wird unter Präsident Boris Jelzin sogar noch Vize-Verteidigungsminister. Als ein Alter Ego Michail Nikolajew hat er Einreiseverbot. Als Politiker wird er 1992 hierzulande «mit allen diplomatischen Ehren empfangen».
Die «Sekretärinnenaffäre» 1985
25. August 1985. Als Johann und Ingeborg Hübner von den Schweizer Behörden gestellt werden, fallen ihre Nachbarn aus allen Wolken. 23 Jahre hat das Paar im Haus Cresta in Neuenkirch LU gelebt – und nun werden sie plötzlich verhaftet.
Dabei haben der 62-jährige Techniker und seine drei Jahre jüngere Frau auch sie ausspioniert, wie später klar wird. Und eigentlich heissen die zwei tatsächlich Jan Karmazin aus Brünn in Tschechien und Rosmarie Müller aus Magdeburg. Die Eheleute, die nach aussen ein bünzliges Leben führen, arbeiten eigentlich für die Stasi und den KGB.
In Neuenkirch haben sie eine geheime Funkanlage betrieben und richten zwischen Littau LU, Menziken AG und Niederönz BE rund 15 tote Briefkästen für die Nachrichtenübermittlung ein. Die Festnahme bringt eine kleine Lawine ins Rollen: Sie verpfeifen weitere Spione im Westen.
Es geht dabei um den deutschen KGB-Agenten Franz Becker, der das Bindeglied zwischen der Schweizer Zelle und Frauen fungierte, die in hohen Positionen in Westdeutschland tätig sind. Die «Romeo» genannten männlichen Mitarbeiter umgarnen die Frauen amourös, um sie dann geheimdienstlich anzuwerben.
Sekretärinnen wie Margarete Höke, die im Bundespräsidialamt arbeitet, oder Sonja Lüneburg, die dem damaligen deutschen Wirtschaftsminister Martin Bangemann zuarbeitet, fliegen auf. Jan Karmazin und Rosmarie Müller werden 1986 in Luzern zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Appellation werden daraus fünf Jahre, doch 1988 werden die beiden ohnehin abgeschoben. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Die Entdeckung des Waffenlagers 1998
Geisteswache Leser*innen mögen grad einwenden, dass das Jahr 1998 fehl am Platze ist, wenn der KGB 1991 aufgelöst wird. Doch eben, weil jene Dienste die Eigenschaft haben, geheim zu sein, kommt manches erst spät ins Tageslicht – wie im Fall der vergrabenen Waffen von Belfaux, einem Vorort von Freiburg.
Eine Gruppe macht sich im Dezember in einem abgelegenen Waldstück zu schaffen. Sie besteht aus Beamten der Fedpol, der Freiburger Kantonspolizei und des Wissenschaftlichen Forschungsdiensts der Stadtpolizei Zürich (WFD). Sie folgen verschiedenen Gegenständen, die den Ort markieren, fangen an zu graben und stossen schliesslich in einem Meter Tiefe auf zwei Metallkoffer.
Diese sind mit Sprengladungen versehen: «Jeder, der den Behälter bewegt hätte, wäre getötet worden», sagt ein Sprecher der Bundesanwaltschaft dem «Beobachter». Die WFD-Spezialisten entfernen die Zündungen: Zum Vorschein kommen ein veralteter Empfänger und ein Sendegerät. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass es sich beim aufgefundenen Versteck «nicht um das einzige in der Schweiz» handeln soll.
Das Schweizer Material-Depot ist bereits in den 60ern vom KGB angelegt worden – und das Versteck ist nur wegen eines Überläufers aufgeflogen. Wassili Mitrochin flieht 1992 nach Grossbritannien und übergibt dem Westen ein immenses Archiv von KGB-Daten, das letztlich auch zum Fund in der Westschweiz führt.
Die Dokumente bergen weitere Enthüllungen – etwa darüber, wie der KGB erwägte, von der Schweiz aus eine deutsch-italienische Öl-Pipeline zu sabotieren, oder wie er 1974 in der Schweiz den russischen Autoren Alexander Solchenizyn mit einer «Julia» bespitzelt, dem weiblichen Pendant zum «Romeo».
Das Abschlusszeugnis des KGB
Einerseits ist die Organisation seit 30 Jahren aufgelöst. Andererseits gilt: Der König ist tot, es lebe der König. Oder besser: Goodbye KGB, hello SWR und FSB. Zwar sind einige Agenten in den wilden 90ern übergelaufen wie Wassili Mitrochin oder aufgeflogen wie Witali Schlykow, doch vieles ist alter Wein in neuen Schläuchen.
«Die Ostspionage geht munter weiter», warnt dann auch der Schweizer Hauptmann Martin Hagmann in der Zeitschrift «Schweizer Soldat» von 1992. Mehr als ein Vierteljahrhundert später wird er von Männern wie dem ehemaligen KGB-Agenten Sergej Zhirnov bestätigt.
Der Russe lebt seit 2001 in Paris, ist Buchautor und behauptet, die Schweiz sei immer noch ein Tummelplatz der Geheimdienste. «Bis auf die körperliche Hülle wird alles geändert: Nationalität, Name, Herkunft. Man ändert die ganze persönliche Geschichte, strickt eine Legende und schickt die Leute auf Mission», erklärt er 2019 in einem Interview.