«Ausmerzung» gefordert «Eingabe der Zweihundert» – als die Schweizer Faschisten ihr Ende besiegelten

Von Philipp Dahm

15.11.2020

173 Frontisten und Nazi-Freunde wollen dem Bundesrat vor 80 Jahren mit einem Pamphlet den Kopf verdrehen – doch die «Eingabe der Zweihundert» wird für die Schweizer Faschisten zum Genickbruch.

Hektor Ammann kommt im Juli 1894 in der Schweiz zur Welt, doch sein Herz hängt der Aarauer Sohn eines Architekten an das Deutsche Reich. Sein Geschichtsstudium führt ihn während des Ersten Weltkrieges neben Aufenthalten in Zürich und Genf auch nach Berlin.

1916, im Alter von erst 22 Jahren, wird er Sekretär des Vereins für das Deutschtum im Ausland – und hebt 1921 den Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz mit aus den Angeln. Die Organisation entsteht aus einer Protestbewegung heraus, die sich daran stört, dass die Schweiz Mitglied des Völkerbunds geworden ist.

Auch der Jus-Student und spätere Offizier Gustav Däniker aus Steinmaur ZH ist dabei, der später Karriere bei der Armee macht, bis ihn seine Hingabe zu Berlin zu Fall bringt. Theologe Eduard Blocher aus Münchenstein im Baselbiet gehört ebenfalls zur Gründungsclique.

Hitlers Betteltour in der Schweiz

Und natürlich Hans Oerhler aus Wildegg AG: Der Journalist begründet 1921 auch die Schweizer Monatshefte für Politik und Kultur mit, die zum Sprachorgan der germanophilen Rechten avancieren. Im Sommer 1923 trifft Oehler in Zürich einen Österreicher, der in einem Hotel an der Bahnhofstrasse untergekommen ist und nach potenten Schweizer Geldgebern sucht: Der Aargauer wird zum glühenden Verehrer von Adolf Hitler. 

Ulrich Wille senior kam mit seiner Familie aus Norddeutschland in die Schweiz und reformierte hier die Armee. Im Bild: Wille zu Pferd auf der Alten Landstrasse vor seinem Gut Marienfeld in Meilen ZH um 1909.
Ulrich Wille senior kam mit seiner Familie aus Norddeutschland in die Schweiz und reformierte hier die Armee. Im Bild: Wille zu Pferd auf der Alten Landstrasse vor seinem Gut Marienfeld in Meilen ZH um 1909.
Bild: Gemeinfrei

Hitler trifft in Horgen den in Hamburg geborenen Schweizer General Ulrich Wille, dessen Sohn Ulrich Wille junior den späteren Massenmörder zu einem Vortrag in seine Villa Schönberg in der Zürcher Enge einlädt. «Er kam zusammen mit Rudolf Hess hierher, der in Zürich studierte», sagt dazu Albert Lutz, Direktor des Museums Rietberg, dem «Tages-Anzeiger».

Hitler verlässt die Schweiz nach Besuchen in Aarau und Schaffhausen wieder – doch seine vergiftete Saat geht auch hierzulande auf. Immer mehr Organisationen entstehen, die sich am grossdeutschen Ungeist orientieren: 1925 die Heimatwehr, 1930 die Neue Front, die später Nationale Front heisst, 1931 die Eidgenössische Aktion und 1932 in Genf die Union nationale.

Frontenfrühling in der Schweiz

Mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland bekommen jene Gruppen und viele weitere, die sich bis zum Kriegsausbruch bilden, regen Zulauf. Die neue «Aargauer Zeitung» spricht im April 1933 vom «Frontenfrühling»: Die Rechtsextremen können in Schaffhausen, Zürich und Genf Wahlerfolge verbuchen, spielen später politisch aber keine grosse Rolle mehr.

Wahlplakat der Nationalen Front vom 23. September 1933.
Wahlplakat der Nationalen Front vom 23. September 1933.
Bild: Gemeinfrei

Das hält die Deutschtümelnden nicht von Agitation ab: 1934 begehen sie ein Bombenattentat auf einen Zürcher Journalisten, 1935 prügeln sie sich in Schaffhausen mit Sozialisten. Im selben Jahr lancieren die Rechten die Fronteninitiative, die die Bundesverfassung auf den Kopf stellen will: 72,3 Prozent der Stimmbürger lehnen das Ansinnen jedoch ab. 1937 scheitern die Faschisten dabei, die liberalen Freimaurerlogen verbieten zu lassen.

Wahlplakat von 1935.
Wahlplakat von 1935.
Bild: Museum für Gestaltung Zürich

Doch insgesamt ist die Rechte hochgradig zersplittert: Unter ihnen sind Freisininnige wie auch Nazis zu finden. Gemein ist ihnen in der Regel, dass sie antikommunistisch, nationalistisch, völkisch und zumeist antisemitisch sind. Doch die Kameraden sind auch zerstritten – und ihnen fehlt das Zugpferd.

Bei Hess und Hitler zum Tee

Ullrich Wille junior möchte so ein Zugpferd sein: Der Schweizer Offizier reist 1934 nach München, um Hess und Hitler zum Tee zu treffen, doch nachdem seine Nazi-Kontakte auffliegen, kann Bundesrat Rudolf Minger nur knapp Willes Entlassung aus der Armee verhindern. Im August 1939 muss der Thuner seine grösste Niederlage hinnehmen, als das Parlament statt ihm den Welschen Henri Guisan zum General macht. 

Adolf Hitler (Mitte) und Rudolf Hess am 30. Dezember 1938 in Berlin.
Adolf Hitler (Mitte) und Rudolf Hess am 30. Dezember 1938 in Berlin.
Bild: Keystone

Nazideutschland ist nicht nur die Zerstrittenheit der Schweizer Rechten ein Dorn im Auge, sondern auch so manche kritische Schlagzeile in der Schweizer Presse. Berlin schickt einen Agenten, der die Faschisten zu einer schlagkräftigen Truppe zusammenschweissen soll. Klaus Huegel heisst der SS-Mann, der beim Sicherheitsdienst (SD), dem Geheimdienst der NSDAP, für die Schweiz und Liechtenstein verantwortlich ist.

Huegel stösst im Juni 1940 die Gründung der Nationale Bewegung der Schweiz (NBS) an, die die Frontisten einen sollen. Tatsächlich gehen der Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung von Hitler-Jünger Hans Oehler oder die Schweizerische Gesellschaft der Freunde einer autoritären Demokratie in der neuen Bewegung auf.

NSDAP-Geheimdienst will Schweizer Rechte einen

Es sind Wille und Huegel, die Druck auf Bern ausüben wollen: Im September 1940 verabreden sie ein Treffen mit Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz, um über schlechte Presse zu wettern und dem Bundesrat ihre Weltsicht dazulegen: Neutralität gern, aber nur eine, die sich Deutschland unterordnet. Der Termin sorgt in der politischen Schweiz für Wirbel.

Der neu gewählte Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz wird im Dezember 1939 von General Henri Guisan in Lausanne empfangen. 
Der neu gewählte Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz wird im Dezember 1939 von General Henri Guisan in Lausanne empfangen. 
Bild: Keystone

Die Rechte scheint sich derart bestärkt zu fühlen, dass sie in die Vollen geht: Am 15. November 1940 übergeben sie dem Bundesrat die «Eingabe der Zweihundert» – ein Pamphlet, das Bern zu rigider Pressezensur aufruft, um es sich mit Hitler nicht zu verscherzen. 173 Schweizer unterzeichnen den Brief: Nationalisten der ersten Stunde wie Hektor Ammann sind ebenso dabei wie diverse Armeeangehörige.

Die Unterzeichner sind Landwirte, Lehrer oder Ärzte – auffallend sind die vielen Juristen. Selbst ein Pfarrer unterstützt den Aufruf. Sie kommen aus der ganzen Schweiz – von Aarau bis Zollikon. Was auffällt: Die Romandie und das Tessin sind stark untervertreten, und das Gros der Zustimmenden kommt klar aus Zürich. Aus «vaterländischer Sorge» würden sie dem Bundesrat schreiben, geben sie vor.

Ausmerzung, Ausschaltung und Überwachung

Die Forderungen: «Ausschaltung jener Personen, die für das Wohl und Ansehen des Landes» aus Sicht der Faschisten abträglich sind; «Ausmerzung jener Presseorgane, die im Dienste fremder» Mächte stünden; «Straffe Überwachung der Schweizerischen Depeschenagentur» oder die «Entfernung jener Personen aus Stellen des Staates, deren politische Tätigkeit sich für das Land als nachteilig erweist».

Das Pamphlet bringt das Fass zum Überlaufen. Die von Deutschland aus gesteuerte NBS wird wenige Tage nach Eingang des Briefes verboten – und die Armee schliesst fortan die Reihen gegen germanophile Offiziere: Ein Offizier wie Gustav Däniker, der die Eingabe ebenfalls unterschrieben hat, fliegt nach Veröffentlichung einer rechten Denkschrift 1941 aus der Armee. Das gilt auch für den Zürcher Lehrer und Mitverfasser der Eingabe Heinrich Frick, den die Armee 1942 entlässt und der 1946 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wird.

Das hätten auch die «Zweihundert» beherzigen sollen: Schweizer Armee-Motto im Zweiten Weltkrieg.
Das hätten auch die «Zweihundert» beherzigen sollen: Schweizer Armee-Motto im Zweiten Weltkrieg.
Bild: WikiCommons/Oggi

Henri Guisans Réduit-Strategie greift, die in Nazideutschland die grösste Bedrohung erkennt. Klaus Huegel wird 1942 als Agent enttarnt – und nach dem Krieg in einem englischen Kriegsgefangenenlager von Schweizer Agenten verhört. Mit Kriegsende versinken auch die Frontparteien in der Versenkung – und bleiben dort, bis die Schweiz die Kraft aufbringt, sich wieder mit diesem düsteren Teil ihrer Geschichte zu beschäftigen.

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