Das WM-Gastgeberland Katar bleibt definitiv in Erinnerung. Diese Eindrücke blieben mir nach einem sechstägigen Kurz-Trip haften.
Gestern Abend lande ich per Zufall im Fünf-Sterne-Hotel Raffles. Dort quartiert die FIFA ihre VIPs ein. Das Gebäude lässt alle anderen Prunk-Paläste in der Gegend verblassen. Wie ein «Sternentor» sehe das gigantische U-förmige Teil aus, findet ein Blogger und schreibt passend: «Anstatt seinen Fahrgast in eine andere Dimension zu befördern, bringt er ihn in eine ganz neue Welt voller Luxus.» Es wäre auch eine beeindruckende Kulisse für einen James-Bond-Streifen.
Beim Anblick des Gebäudes galt mein erster Gedanke aber der «Herr der Ringe»-Trilogie – die düstere Festung des Herrschers Sauron in Mordor weist überraschende Parallelen auf. FIFA-Boss Gianni Infantino residiert gemäss einer Quelle aber nicht im just für die WM eröffneten Komplex, das während des Turniers exklusiv dem Fussball-Weltverband gehört.
Beim Betreten des «Raffles» stockt einem der Atem. Die Eingangshalle ist bereits ein Mix aus Marmor, Gold und sonstigen hochwertigen Materialien, an der Decke wird digital ein blauer Himmel mit Wolken simuliert. In der Zigarrenlounge zahlt man für einen Negroni 95 Katar-Riyal, also umgerechnet 25 Schweizer Franken. Definitiv kein Schnäppchenpreis. Gratis gibt es dafür das Sitzen im Leder-Sessel. Der Zigarren-Rauch stört hier zudem nicht. Kein Wunder, die Räume sind einfach so gigantisch, dass sich hier keine Rauchschwaden bilden können.
Nur wenige externe Besucher finden den Weg hierher, schliesslich muss man eine Reservation vorweisen, um überhaupt die Sicherheitskontrollen zu passieren. Doch ohne FIFA-Badge wird einem Normalsterblichen in den laut Eigenwerbung «sieben spektakulären Restaurants/Bars» nichts serviert. Trotzdem wird mir im 33. Stock ein kleiner Rundgang gestattet. Ein Arbeiter in einer Röhre – eingepackt wie ein Polarforscher – müht sich mit seinem Bohrer an einer Eisskulptur ab. Ein skurriles Bild, welches die vorherrschenden Vorurteile über das Gastgeberland bestätigen: Geld im Überfluss, aber kein Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Und die FIFA als extravaganter Nutzniesser.
Bunte Fassade
Aber das soziale Gewissen hat man sowieso spätestens beim Check-in am Flughafen abgegeben. Die dubiosen Umstände bei der WM-Vergabe sollen den Blick auf die Destination ja nicht trüben.
Der Flieger war sowohl auf dem Hin- als auch Rückflug bei weitem nicht ausgelastet – geschätzt etwa ein Fünftel der Sitze im riesigen Airbus A380 (517 Plätze) sind besetzt. Ich schätze, auch die FIFA würde sich bei diesem Anblick nicht getrauen, das Ganze als «ausverkauft» zu vermelden.
Die Uber-Fahrt in die Innenstadt Dohas gibt gleich die Marschroute des Turniers vor. Als wir unseren Fahrer aus Bangladesch fragen, ob diese Autobahnen neu sind, meint er nur: «Not new, seven years old.» Die Strassen sind geräumig, nicht mal das Kader der Seleção verfügt über eine solche Breite. Doch viel Platz braucht es auch, denn schliesslich sind fast alles Offroader auf der Asphalt-Strecke.
Die Innenstadt Dohas ist jeweils in der Abenddämmerung überraschend bunt anzusehen. Die Fassaden der Hochhäuser und Wolkenkratzer werden fast überall mit leistungsstarkem LED-Licht angestrahlt. Bei der Gebäudebeleuchtung fand ziemlich sicher keine Debatte im Stile der «One-Love»-Captainbinde statt, obwohl die fröhlichen Farben zusammen durchaus eine Regenbogen-Stimmung erzeugen.
Stadionbesuche gut organisiert
Die ganze Stadionbauerei – insgesamt sind es acht Stück – war natürlich ein Horrorszenario für alle Klima-Aktivisten, der «reine» Fussball-Fan kommt aber definitiv auf seine Kosten. Die Stadien liegen nicht weiter als 68 Kilometer voneinander entfernt. Ganz ohne Stress lassen sich zwei Partien an einem Tag aber nicht verfolgen, schliesslich verstopfen die unzähligen Autos jeweils die Anfahrtsstrecken. Zumal alle Besucher auf den letzten Drücker kommen wollen und so das Problem noch verschärfen. Als Alternative stehen aber einerseits die neu gebaute Metro sowie andererseits die zahlreichen Shuttlebusse zur Verfügung.
Ticket-Kontrollen und Sicherheits-Checks gehen relativ zügig. Dabei muss auch hier ein längerer Fussmarsch in Kauf genommen werden. Doch weil die Zuschauerströme stets in Bewegung bleiben, hält sich der Frust über die zusätzlichen Umwege in Grenzen. Auch bei der Stadionverpflegung geht es in den 40'000 bis 80'000 Plätze grossen Stadien problemlos voran, auch wenn man nur mit der Karte eines FIFA-Sponsors bargeldlos bezahlen kann.
Die Stimmung hängt von den teilnehmenden Nationen ab. Mit dem Schweizer Leibchen geniesst man Exotenstatus, was zugleich die einzelnen Exponenten zu einer Schicksalsgemeinschaft einschwört. So trifft man sich nach dem Sieg im entscheidenden Gruppenspiel gegen Serbien in einem Pub im Zentrum. Eine kleine, aber durch die Umstände umso mehr verschworene Gemeinschaft, die mit Bier – Alkohol ist an überraschend vielen Orten erhältlich – und Musik (Polo Hofer!) feiert – ein tolles Erlebnis.
Friedliche Stimmung, aber selten ausgelassen
Auch sonst herrscht auf den Tribünenrängen praktisch allerorts eine friedliche Atmosphäre. Zusammengefasst ist es meistens trotzdem mehr ein Nebeneinander statt Miteinander. Die arabische Welt, sonst oft zerstritten, wirkt aber bei der Heim-WM geeint wie nie zuvor. Die WM, die rund 200 Milliarden US-Dollar gekostet hat, könnte zumindest kurzfristig also auch eine positive Auswirkung auf diese Weltregion haben.
In der K.o.-Phase gab es bezüglich Stimmung einen klaren Sieger: Die Argentinien-Fans machten mit Abstand am meisten Stimmung. Wenn man den Gerüchten glauben soll, hat der Verband zusätzlich neben zahlreichen regulären Supportern noch einige Fan-Leader eingeflogen, um für eine noch bessere Atmosphäre zu sorgen. Danach folgen Brasilien und das Überraschungsteam Marokko auf Augenhöhe.
Ebenfalls beeindruckend ist die Aufregung um Ronaldo im Spiel gegen die Schweiz, als gefühlt das ganze Lusail-Stadion (80'000 Zuschauer) seine Einwechslung fordert. Selbst als Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani am Dienstag in seiner Loge auftaucht, werden vermutlich weniger Handys gezückt. Wie es auch sei: Die Selfie-Kultur hat auch diese WM fest im Griff. Überall muss noch ein Schnappschuss her, um seinen Followern zu zeigen, dass man dabei war.
Extra-Bonus als Fremder
In Katar kann es bekanntermassen sehr heiss werden, doch aktuell sind die Temperaturen für die Athleten auf dem Feld perfekt. Für die Zuschauer wäre es in der Theorie ebenfalls sehr angenehm, doch leider führen die Kühlanlagen oft – abhängig von Platz und Stadion – eisige Luft an die Beine.
Die ständige Unterkühlung gehört aber quasi zum Stadtbild wie die aus westlicher Sicht rigide Kleiderordnung: Die einheimischen Männer laufen im weissen Dischdascha-Gewand herum, die Frauen verhüllen sich traditionell im schwarzen Abaya. Oft lugen auch nur die Augen aus den dunklen Tüchern hervor.
Mit den konservativen Kataris in Kontakt zu treten, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit: Zu weit auseinander liegen die Welten, die im Stadtzentrum auf nur wenigen Quadratmetern aufeinanderprallen.
Dafür wimmelt es von Volunteers, die aus allen Ecken und Ländern der arabischen und asiatischen Welt zu kommen scheinen. Der Stolz, bei einem sporthistorischen Ereignis dabei zu sein, scheint riesig. Auf der anderen Seite beschleicht einen ein ungutes Gefühl, wenn man sieht, wie viele Menschen für diesen vierwöchigen Anlass im Einsatz sind. Viele davon dürften nur sehr gering für ihren Einsatz entschädigt werden – wenn überhaupt.
Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ist auch an den Spieltagen spürbar. Während man als Europäer auch mal durch eine Polizeikette durchmarschieren kann («We are with FIFA») oder sich in den VIP-Shuttlebus schmuggelt, dürften solche Aktionen bei Menschen mit anderer Hautfarbe anders herauskommen. Oder auf neudeutsch: Weisse Privilegien.
Wohlhabende Menschen haben in Doha in der Tat ein tolles Leben. In den gigantischen Shopping-Malls sind alle grossen Marken vertreten. Zahlreiche internationale Restaurantketten sind ebenfalls vor Ort. Nur Strand-Hotels sind hier – vor allem im Vergleich zu Dubai – erst wenige entstanden, was viele europäische Touristen wohl auch künftig von einer Reise abhalten wird.
Für Romantiker ist hier definitiv kein Platz. Leute, die an einen arabischen Traum glauben, wo Geld wie Öl sprudelt, sind dagegen in Katar am richtigen Ort.