ZwischenbilanzVideo Assistant Referee: Fluch, Segen oder beides zusammen?
Luca Betschart
26.6.2018
Mehr als die Hälfte aller Partien der WM in Russland sind gespielt und die entscheidende Phase des Turniers steht kurz bevor. Der neu eingeführte Videobeweis schlägt hohe Wellen bei Spielern und Fans. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Als sich Brasilien im bis dahin torlosen zweiten Gruppenspiel gegen Costa Rica abmüht und in der 78. Minute einen erneuten Anlauf in Richtung Torhüter Keylor Navas nimmt, wird Neymar im Strafraum angespielt. Nach einem Haken des brasilianischen Hoffnungsträgers geht dieser zu Boden – und Schiedsrichter Björn Kuipers zeigt auf den Punkt. Im ersten Moment wohl für die meisten Zuschauer ein klarer Fall und eine richtige Entscheidung.
Nach Konsultation des Videobeweises erkannte nicht nur der niederländische Spielleiter, dass der Sturz von Neymar weniger mit der Intervention seines Gegenspielers zusammenhing, als mit dem eigens verlorenen Gleichgewicht des Brasilianers.
Betrachtet man diese und ähnliche Situationen, zeigt sich wohl jeder Fussballfan vom VAR (Video Assistant Referee) überzeugt. Schwalbenkönige werden überführt und Offsidetore werden aberkannt. So wurden bei der diesjährigen WM bereits 14 Strafstösse gegeben, während es vor vier Jahren in Brasilien über das gesamte Turnier deren 13 waren. Doch gibt es dank des Videobeweises auch tatsächlich mehr Gerechtigkeit?
VAR ersetzt das Fingerspitzengefühl nicht
Im Fussball gibt es oft Situationen, die auch in der Wiederholung nicht eindeutig erkennen lassen, wie eine Aktion zu beurteilen und gegebenenfalls zu sanktionieren ist. Deshalb spielt auch mit Unterstützung des VAR das Ermessen oder Fingerspitzengefühl des Schiedsrichters nach wie vor eine gewichtige Rolle.
Dies scheint beispielsweise Carlos Queiroz, Cheftrainer der Iraner, nicht zu bedenken. Nach dem gestrigen Ausscheiden gegen Portugal wetterte er gegen den Videobeweis: «Es wurden Zehntausende Dollar ausgegeben, da sitzen fünf Leute zusammen und sehen den Ellbogenschlag nicht. Ach, lasst mich doch in Ruhe.»
Queiroz bezieht sich auf eine Aktion von Cristiano Ronaldo, bei welcher dessen Ellbogen tatsächlich im Gesicht des iranischen Verteidigers landete. Daraufhin reagierte der VAR und Feldschiedsrichter Caceres schaute sich die Aktion erneut an. Dabei entschied er nach eigenem Ermessen, Ronaldo (nur) mit einer gelben Karte zu bestrafen, was nicht der Meinung des iranischen Trainers entsprach, aber ebenso wenig auf die Funktionstüchtigkeit oder Angemessenheit des VAR zurückzuführen war.
Fragwürdige Intervention bei Dänemark – Australien
Was hingegen verständlicherweise kritisert wird, betrifft das Ermessen des Videoschiedsrichters. So gibt es zwar Bestimmungen der FIFA, in welcher Situation der VAR eingreifen muss und darf. Es soll demnach nur interveniert werden, wenn es einen klaren Fehlentscheid zu korrigieren gilt. Während den ersten Gruppenspielen schien dies auch relativ einheitlich berücksichtigt zu werden.
Doch dann, im Spiel zwischen Dänemark und Australien (1:1), intervenierte der VAR nach einem umstrittenen Handspiel der Dänen im eigenen Strafraum. Die Meinungen, ob dieses geahndet werden sollte, gingen weit auseinander. Allein diese Tatsache zeigt, dass der VAR in diesem Fall nicht hätte eingreifen dürfen, soll zukünftig eine gewisse Kontinuität in der Konsultation des Videobeweises entstehen.
Auch anlässlich der Partie zwischen Portugal und dem Iran entschied sich der VAR, ein nicht geahndetes Handspiel im portugiesischen Strafraum als klaren Fehlentscheid des Feldschiedsrichters zu interpretieren. Nach der Konsultation des Videobeweises entschied Schiedsrichter Caceres tatsächlich auf Elfmeter, obwohl die Bilder seinem ursprünglichen Entscheid alles andere als komplett widersprachen.
Es braucht ein einheitliches Verständnis
Im Gegensatz dazu werden mehr als nur umstritten wirkende Aktionen von Videoschiedsrichtern nicht als klarer Fehlentscheid taxiert. So wurde die serbische Sturmspitze Mitrovic im Spiel gegen die Schweiz gleich von zwei Nati-Verteidigern im Strafraum umgerissen. Trotz Protesten der serbischen Mannschaft gab es keine Konsultation des Videobeweises.
Das Potenzial des Videobeweises kann womöglich nur dann ausgeschöpft werden, wenn es gelingt, ein möglichst einheitliches Verständnis bei Schiedsrichtern und VAR zu etablieren, in welchen Situationen eine Intervention des VAR erwünscht ist und in welchen nicht. In diesem Fall könnten sich wohl auch Spieler und Trainer (nicht nur des Irans) besser mit Entscheidungen des Videoschiedsrichters arrangieren.
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