Clément Noël ist mit dem Weltcup-Tross zurück in seiner früheren Wahlheimat Val d'Isère. In der Tarentaise hat der 22-jährige Franzose als Teenager den Weg zu einer grossen Karriere vorgespurt.
Ein Abstecher in die Patisserie «Les Clarines» ist Pflicht in diesen Tagen. Clément Noël muss hin zum Haus an der Avenue Olympique, das für ihn vor noch nicht allzu langer Zeit seine zweite Heimat war. Er muss zurück zu seiner Gastfamilie in Val d'Isère. Bei Patrick und Odile Chevallot war er damals untergekommen, als 15-Jähriger, als er seine Eltern und den älteren Bruder Mathieu im 1000-Seelen-Dorf Le Ménil in den Vogesen verlassen hatte. Die dortigen Bedingungen genügten ihm nicht, um seine Ziele als Skirennfahrer umzusetzen.
Den Sommer über war Noël Schüler des Skigymnasiums in Albertville, in den schulfreien Wintern zügelte er nach Val d'Isère, in die Obhut der Chevallots. Patrick Chevallot erinnert sich gerne an die Zeit zurück. «Er war ein bescheidener, freundlicher Junge. Wir hatten ihn sofort ins Herz geschlossen. Für uns war er wie ein dritter Sohn. Drei gemeinsame Winter, das verbindet.»
Nach dem Schulabschluss, den er im Alter von 18 Jahren mit hervorragendem Notendurchschnitt hinter sich brachte, bezog Noël in Albertville seine eigene Wohnung. Er lebt heute noch in der Olympia-Stadt von 1992. Mittlerweile bewohnt er sein eigenes Appartement, das er vor kurzem gekauft hat.
Der kurze Weg an die Spitze
Aus dem Talent ist innert kürzester Zeit einer der besten Slalom-Fahrer geworden. Vor drei Jahren hatte Noël in Levi in Finnland sein Debüt im Weltcup gegeben, im vergangenen Winter in Wengen, in seinem erst 18. Rennen, siegte er ein erstes Mal, eine Woche später in Kitzbühel ein zweites Mal, und beim Saisonfinale Mitte März in Soldeu in Andorra folgte der dritte Streich.
Der sportliche Erfolg hat Noël nicht verändert. Er ist der bescheidene junge Mann geblieben, der seine eigenen Leistungen einzuschätzen weiss – auch das Faktum, dass er nach dem Rücktritt von Marcel Hirscher in der Weltcup-Startliste des Slaloms die Führungsposition übernommen hat. «Ich sehe mich nicht als Nummer eins und bin nicht der Fahrer, den es zu schlagen gilt. Innerhalb der ersten sieben ist der Abstand ja sehr gering. Da gibt es andere schnelle Leute, Daniel Yule, Ramon Zenhäusern etwa, oder Hendrik Kristoffersen und Alexis Pinturault.»
Die Ruhe selbst
Noël wirkt unglaublich reif und abgeklärt für sein Alter. Wie zwischen den Slalom-Toren ist er auch in seinem Denken der Zeit voraus. Er spricht mit Bedacht, seine Worte sind wohl gewählt. Er redet bestimmt, ohne überheblich zu wirken. Noël hat dieses Faszinierende an sich, mit dem er seine Zuhörer in den Bann zieht. Seine Besonnenheit und seine Ruhe beeindrucken.
Noël scheint weder auf noch neben der Piste etwas aus der Fassung bringen zu können. Stress jeder Art perlt an ihm ab, Nervosität kommt bei ihm selten auf. «Ich bin schon immer der ruhige Typ gewesen. Ich versuche, mich auf das Skifahren zu fokussieren. Es bringt nichts, an einem Renntag an Sachen zu denken, die nicht wichtig sind. Das lenkt nur ab.»
Die Ruhe bewahrte Noël auch, als Rückenprobleme seine Vorbereitung im Herbst beeinflusst und ihn gezwungen hatten, eine Woche früher als geplant aus dem Trainingslager in Ushuaia in Argentinien abzureisen. Rund einen Monat musste er mit dem Skifahren aussetzen, auf den Schnee kehrte er erst Ende Oktober zurück. «Es war ja keine schlimme Verletzung. Statt Skifahren stand halt Physiotherapie auf dem Programm.» Vor zweieinhalb Wochen in Levi erhielt er die Bestätigung, dass seine Form trotz eingeschränkter Vorbereitung stimmt. Im hohen Norden reichte es nach Bestzeit im ersten Lauf hinter dem Norweger Henrik Kristoffersen zu Platz 2.
Die neue Erfahrung
Pausieren und verzichten zu müssen, eingeschränkt im sportlichen Tun zu sein, das war für Noël eine neue Erfahrung, «denn ernsthaft verletzt war ich noch nie». Der Rücken schmerzt zwar nicht mehr. Trotzdem richtet Noël seinen Rennkalender nach seiner Schwachstelle aus. «Auch wegen des Rückens konzentriere ich mich vorerst auf den Slalom. Aber es kann durchaus sein, dass ich im Verlauf des Winters in Parallelrennen und zum ersten Mal auch im Riesenslalom starten werde. Mein längerfristiges Ziel ist es, auch die Riesenslaloms zu bestreiten.»
Die Konzentration auf den Slalom bringt auch Vorteile – in diesen Tagen im Besonderen. Der Slalom in Val d'Isère wird nach einer Programmänderung am Samstag gefahren – falls es das Wetter überhaupt zulässt. Den Sonntag hat Noël, mit Ausnahme eines kurzen Trainings, auf jeden Fall zur freien Verfügung. Er weiss wohl schon, wie er die Zeit nutzen wird. Patrick und Odile Chevallot dürfen sich auf einen weiteren Besuch ihres Ziehsohns freuen.