Seit zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Während im Osten des Landes Bomben fallen, ist im Westen das Leben zwischen Notunterkünften und Luftschutzkellern die neue Normalität. Ein Besuch bei vier Familien, die sich mithilfe des SRK ein neues Leben aufbauen.
In Kooperation mit Schweizerischem Roten Kreuz
15.02.2024, 09:20
16.02.2024, 13:23
In Kooperation mit Schweizerischem Roten Kreuz
Zehn Kinder sitzen unter Decken in einem dunklen Bunker aus dem Ersten Weltkrieg. Die Mädchen und Jungen werfen einander einen Wollknäuel zu. Wer ihn fängt, sagt laut, was er oder sie mag. Anja malt gern. Denis singt oft. Artim liebt Fussball. Jedes Kind hält dann den Faden mit zwei Fingern und wirft den Knäuel weiter. So entsteht zwischen ihnen ein rotes Netz aus Garn. Nach 38 Minuten ertönt eine Sirene – der Luftalarm ist vorbei. Die Kinder jubeln, das Leben geht weiter.
Kriegsalltag verdrängt Angst
Ein Mädchen aus dem Bunker ist die dreijährige Melania. Als der Alarm an diesem Nachmittag ertönt, ist sie in einem Zentrum für psychosoziale Betreuung nahe der Stadt Kremenez im Westen der Ukraine. Wenn die Sirenen dröhnen, müssen die Kinder mit den Leiterinnen in den Bunker gehen und dort ausharren, bis die nächste Sirene Entwarnung gibt. Das kann ein paar Minuten dauern – oder mehrere Stunden. Es passiert an manchen Tagen mehrmals, manchmal ist ein paar Tage Ruhe. Angst vor den Sirenen haben die Kinder keine mehr, der Krieg gehört nun zu ihrer Kindheit dazu.
Melania verbringt ihre Nachmittage oft im Zentrum, denn ihre Mutter Olena Boiko, 41, leitet als freiwillige Helferin Workshops für Kinder bis zwölf Jahre. Das Zentrum wurde vor mehr als einem Jahr vom Staat eröffnet und wird mithilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes betrieben. «Die Kinder haben Schlimmes gesehen und erlebt», sagt Olena Boiko. «Wir helfen ihnen, das aufzuarbeiten – mit verschiedenen Aktivitäten wie Singen oder Tanzen. Jedes Kind reagiert anders.»
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In rund 30 Ländern der Welt ist das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) für die Verletzlichsten im Einsatz. Seit der Eskalation des Konflikts im Februar 2022 unterstützt das SRK die Nothilfe in der Ukraine. Zentral ist die Unterbringung und Versorgung von intern Vertriebenen.
Olena Boiko selbst musste auch mit ihren vier Kindern von Bachmut im Osten des Landes fliehen. «Jede Nacht erlebten wir Drohnenangriffe. Wir schliefen oft im Flur auf dem Boden, damit uns zwei Wände vor den Bomben draussen schützten.» Die Frontlinie rückt immer näher. Als eine Rakete unmittelbar neben ihrer Wohnung einschlägt, beschliesst die Mutter, mit ihren zwei Söhnen und zwei Töchtern in den Westen aufzubrechen. Ihr Ehemann kämpfte damals noch an der Front – bis er verletzt wurde und nachreiste. «Es war sehr belastend für uns. Wir haben alles verloren! Ich hoffe, dass wir hier ein bisschen Frieden finden», sagt Olena Boiko. «Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Aber es muss weitergehen. Ich will ein sicheres Leben für meine Kinder.»
1000 Kilometer Flucht
Seit Ausbruch des Kriegs sind sechs Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, fünf Millionen sind vom Osten in den Westen des Landes geflüchtet. Sie sind Vertriebene im eigenen Land geworden – müssen sich in der fremden Heimat ein neues Leben aufbauen, ohne zu wissen, ob sie je nach Hause zurückkehren können.
Dazu gehören auch Raisa, 60, und Wolodymyr Chalij, 62. Als die russische Armee ihr Dorf in der Region Donezk angreift, zerspringen die Fensterscheiben ihres Hauses, und das Dach stürzt ein. «Ich dachte, wir stecken fest», sagt Raisa Chalij. «Dass wir unter dem Schutt begraben werden.» Ihr Mann ist seit einem Schlaganfall vor zehn Jahren gelähmt, kann nicht reden. Doch freiwillige Helferinnen und Helfer bringen das Ehepaar zum Bahnhof, tragen den Rollstuhl des Mannes in den Zug. Sie flüchten in die Sicherheit in der 1000 Kilometer entfernten Stadt Terebowlja.
Hier leben sie in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock eines Studentenwohnheims. Sie erhalten den ganzen Winter vom Roten Kreuz jeden Monat circa 50 Franken. Damit können sie einen Teil von Wolodymyrs Medikamenten bezahlen. «Wissen Sie, das Dorf, in dem wir lebten, heisst Rai-Oleksandrivka – Rai bedeutet Paradies», sagt Raisa. Ihrem Mann laufen Tränen über die Wangen.
Ein bisschen Normalität
Im Zimmer nebenan lebt Inna Naumova, 33, mit ihrer Tochter Nicole, 4. Die beiden kochen eine Suppe in der Gemeinschaftsküche, die spärlich eingerichtet ist und von 13 Personen des zweiten Stocks täglich benutzt wird. «Aber es hat alles, was wir brauchen», sagt Inna Naumova. Die Mutter und ihre Tochter lebten fast anderthalb Jahre unter ständigem Beschuss der russischen Armee in der Stadt Saporischschja. «Ich habe lange gewartet mit der Flucht, weil ich alleine mit meinem Kind war.» Als sie ankommen, wird das Mädchen krank, isst kaum mehr etwas. Inzwischen hat sie sich erholt. «Suppe mag sie gern», sagt die Mutter.
Wie die Zukunft aussieht, weiss Inna Naumova nicht. Sie würde gern wieder als Verkäuferin arbeiten, ohne Kinderbetreuung ist das aber fast unmöglich. Auch sie bekommen finanzielle Unterstützung – und können sich damit ein Stückchen Normalität leisten. Inna zieht ihre Tochter nach dem Essen warm an. «Wir gehen in den Zirkus.»
Die Hoffnung bleibt
Im Dörfchen Yus’kivtsi, knapp 200 Kilometer östlich von Lwiw, steht ein Gemeindezentrum für Seniorinnen und Senioren. In der Küche bereiten drei ältere Frauen Varenyky vor, Teigtaschen, gefüllt mit Kabis oder Kartoffeln. Das Zentrum ist ein Zufluchtsort – hier gibt es eine Heizung und eine Dusche – für viele nicht selbstverständlich. Das Rote Kreuz unterstützt das Zentrum finanziell.
Auch Wolodymyr Hrechko, 63, ist heute gekommen. Er zeigt auf seinem Handy das Foto einer Ruine. Es ist sein Haus in Mariupol. Oder vielmehr das, was noch davon übrig ist. Am 24. Februar 2022 fährt der Elektriker zur Arbeit. Am Nachmittag sagt der Chef, alle Angestellten sollen nach Hause gehen. Zwei Tage später kämpfen russische Soldaten bereits in der Strasse, in der er lebt. Er packt den Koffer, steigt mit seiner Frau Tetyana Hrechko, 66, ins Auto und fährt los. Die russische Armee zerstört einen Grossteil der Hafenstadt während der dreimonatigen Belagerung und tötet über 20'000 Menschen.
Über Umwege flieht das Ehepaar in den Westen der Ukraine, wo sie jetzt im Ferienhaus von Freunden leben. Viel zu tun gibt es für Wolodymyr hier nicht. Er vermisst sein Zuhause, verfolgt in den Nachrichten, was in Mariupol passiert. «Ich hoffe sehr, dass ich nach Hause zurückkehren kann.»
Dieser Krieg reisst die Menschen aus ihrem Leben. Von früher bleibt oft nur die Hoffnung.
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